Die Presse am Sonntag

Meine Seele ist in Eile

Noch liegt uns der Sommer in voller Pracht zu Füßen, doch auch seine Tage sind bereits wieder gezählt. Aber jetzt feiern wir erst einmal die Zeit der Stockrosen, denn sie stehen gerade in voller Blüte.

- VON UTE WOLTRON

Mitunter taucht aus dem Morast der sozialen Medien, in dem viele von uns einen beträchtli­chen Teil ihrer kostbaren Lebenszeit versenken, ein Blümchen auf, das es wert ist, genauer betrachtet, ja vielleicht sogar gepflückt zu werden. Es handelt sich um ein etwas holprig übersetzte­s Gedicht – oder besser: um einen Gesang auf die Kürze des Lebens und beginnt mit folgenden Worten: „Ich habe meine Jahre gezählt und entdeckt, dass ich weniger Zeit haben werde zu leben, als ich bereits gelebt habe. Ich habe viel mehr Vergangenh­eit als Zukunft. Ich fühle mich wie dieser Knabe, der ein Körbchen voll Kirschen bekommen hat. Die ersten aß er hastig und voll Vergnügen, als er aber bemerkte, dass nur noch wenige übrig waren, begann er sie endlich wirklich zu genießen.“

Angeblich stammt das Gedicht vom brasiliani­schen Dichter und Schriftste­ller Mario´ de Andrade, da man aber dem Internet nicht trauen darf, müsste das überprüft werden. Geboren Ende des 19. Jahrhunder­ts, gestorben Mitte des 20. Jahrhunder­ts war er zu seiner Lebenszeit zwar noch nicht in Versuchung, seine Kirschen an Twitter, Facebook und andere Zeitdiebe zu verschwend­en, doch offensicht­lich litt auch er bereits unter Zuständen, die uns allen bekannt vorkommen könnten: „Ich habe keine Zeit mehr für endlose Treffen, bei denen die Statuten, Regeln, Verfahren und interne Vorschrift­en besprochen werden, in dem Wissen, dass nichts getan wird. Ich habe keine Zeit mehr, absurde Menschen zu unterstütz­en, die trotz ihres fortgeschr­ittenen Alters nicht erwachsen werden. Meine Zeit ist zu kurz: Ich will die Essenz, meine Seele ist in Eile. Ich habe nicht mehr viele Süßigkeite­n im Paket.“ Volle Blüte. Das Gleiche gilt für diesen Sommer. Er liegt uns noch in voller Pracht zu Füßen, doch auch seine Tage sind gezählt, sie wollen ausgekoste­t und mit voller Intensität geschmeckt werden, denn die Sonne wandert bereits wieder in Richtung Herbst und Winter. Doch jetzt feiern wir erst einmal die Zeit der Stockrosen, denn sie stehen gerade in voller Blüte.

An steinigen, sonnigen Stellen, gern an nächtlich wärmende Hauswände gelehnt, auf Schotterha­lden und knochentro­ckenen Steinfelde­rn, kurzum, an Plätzen, an denen die meisten anderen Pflanzen keine Überlebens­chance hätten, entfalten sie ihre großen seidenpapi­erenen Blütentric­hter zu einem köstlichen Rausch an Zartheit und Schönheit in pastellige­m Gelb und Rosa, in Lila, Rot und erstaunlic­h tiefem Schwarz. Sie gedeihen an jenen Plätzen am besten, wo der Boden karg, das Wasser knapp, die Sonne stark ist. Dort wachsen sie oft übermannsh­och.

Viele Jahre meines Gärtnerinn­enlebens habe ich damit verschwend­et, sie domestizie­ren und in meine Blumenbeet­e zwingen zu wollen. Viele von kundigen Gärtnerinn­en und Gärt- nern in Töpfen großgezoge­ne, von mir eifrig gekaufte und daheim eingegrabe­ne Stockrosen habe ich auf diese Weise hinweggera­fft, denn in fetter, nährstoffr­eicher Komposterd­e verkümmern sie. Ihre Blätter vergilben, beginnen jene traurigen Tüpfelchen zu tragen, die ihren Untergang besiegeln: O Malvenrost, du Mörder jeglicher Stockrosen­schönheit! Wenn dieser Pilz die der Malvenfami­lie angehörige Stockrose einmal befallen hat, ist ihr Untergang besiegelt.

Im Sommer vor zwei Jahren stieß ich an einer ganz und gar unmögliche­n Stelle auf die schönste Stockrose, die ich je gesehen hatte. Sie stand am Stra-

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria