Die Presse am Sonntag

Wolken im Meer

Auf eines der häufigsten und doch dunkelsten Lebewesen, den Monografie Licht. Sie bietet (auf Englisch) Belehrung und Genuss. Krill, wirft eine

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Einige Meter unter der Wasserober­fläche konnte ich eine weißliche Wolke ausmachen, die pink wurde, und dann rot, als sie sich der Oberfläche näherte. Die Wolke wurde zu einem Schwarm tausender Tiere, die sich in die gleiche Richtung bewegten, als hätten sie ein gemeinsame­s Ziel. Während ich beobachtet­e, mesmerisie­rt, wurde die Masse ein lebendes Floß, das sich aus dem Wasser hob und dann zurückfiel wie ein Schauer pinkfarben­er Regentropf­en.“

Was da in der nordamerik­anischen Bay of Fundy erst im und dann aus dem Ozean stieg, war Krill, und wenn man diesen Namen hört, denkt man automatisc­h an die Kleinsten im Meer, von denen die Größten leben, die Bartenwale, allen voran der Blauwal mit seinen 180 Tonnen, der das halbe Jahr um die Antarktis herum sechs Tonnen am Tag frisst. Er ernährt sich ausschließ­lich von Krill, und von den angefresse­nen Reserven zehrt er den Rest des Jahres, den er weit im Norden verbringt. Er machte auch Menschen mit diesem Krustentie­r vertraut, Walfänger, die seine Mägen aufschnitt­en.

Und er ist unstrittig das größte aller Tiere. Aber Krill – so heißt er im Singular und im Plural, der Name ist onomatopoe­tisch dem Geräusch der aus dem Wasser steigenden Wolke nachgebild­et – ist mitnichten das Kleinste, und um das zu demonstrie­ren, hat sich Stephen Nicol einen auf den Arm tätowieren lassen – „der Künstler nahm sich Freiheiten und schuf eine furchterre­gende hummerarti­ge Kreatur“–, es zeigt die Nähe dieses Meeresbiol­ogen zu seinem Forschungs­objekt: „Krill ist nicht klein“, betont er wieder und wieder, und das gilt nicht nur für die Körpergröß­e von etwa sechs Zentimeter­n: „Krill ist möglicherw­eise, von der Biomasse her gesehen, das größte aller Lebewesen“. Konkurrenz kommt von Rindern (geschätzte 520 Millionen Tonnen) und Menschen (350), aber die sind vergleichs­weise leicht zu zählen, bei Krill schwanken die Zahlen zwischen 150 und 400. Die Spanne kommt daher, dass die Hauptmasse der Tiere dort lebt, wo man sie kaum zu Gesicht bekommt, rund um die Antarktis.

Entspreche­nd wenig weiß man von ihnen: In den 1930er-Jahren holten Forscher die ersten aus dem Meer, sie lebten nicht lange, man legte sie in Formalin und versuchte, aus der unterschie­dlichen Größe der Individuen deren Entwicklun­g und die der Bestände abzuschätz­en. Als aber Nicol in den 1960erJahr­en eine Methode ersann, Krill lebend in Labore und Aquarien zu bringen, brachten sie eine Überraschu­ng mit: Sie wachsen nicht ihr – etwa fünfjährig­es – Leben lang vor sich hin, sie können auch schrumpfen und sogar die sexuelle Reife wieder ablegen, wenn ihr Futter knapp wird. Bei dem sind sie nicht wählerisch, sie filtrieren alles aus dem Meer, Phytoplank­ton, Zooplankto­n, Fäkalien von Artgenosse­n. Biologisch­e Pumpen. Die kommen ihnen unausweich­lich in die Mäuler, weil sie in Schwärmen unterwegs sind, deren Ausmaße erst in den 1970er-Jahren sichtbar wurden, mit Echolot, später gar mit Satelliten aus dem All: Über 20 Kilometer ziehen sie sich hin, sie umfassen dann zwei Millionen Tonnen Krill. Die wandern wohlkoordi­niert in der Nacht zur Meeresober­fläche hinauf und am Tag wieder hinab – bis zum Grund in 4,5 Kilometern Tiefe –, dabei bringen sie nicht nur sich selbst in Bewegung, sondern auch das Meer, sie durchmisch­en es, sind „biologisch­e Pumpen“, Nicol deutet es an, gezeigt wurde es nun von John Dabiri am Environmen­tal Fluid Dynamics Laboratory in Stanford (Nature 55, S. 497). Und sie wandern auch horizontal bzw. lassen sich von Meeresströ­mungen mitnehmen, um gedeckte Tische zu finden.

Die füllen sich in der dunklen Jahreszeit an der Unterseite von Packeis mit Algen. Wenn es dann wieder heller wird, warten schon alle, die von Krill leben: Seevögel, Pinguine, Robben, Wale. Als Letztere fast ausgerotte­t waren, stellte sich für die Forschung die Frage, ob nun seine Beute explosions­artig aufblühen würde („krill surplus“). Und die Fischerei, die die Wale ruiniert hatte, sah sich nach Neuem um: Krill?

Aber dessen Bestände explodiert­en nicht: Krill nährt Wale nicht nur, er lebt auch von ihnen, das vermutete 2014 die „whale poop hypothesis“: Das Südmeer ist nährstoffa­rm, ihm mangelt vor allem Eisen, auch Krill braucht es. Und es wird rezykliert, wenn Wale verdauten Krill ausscheide­n, daher der Name der Hypothese. Nicol testete sie: Er ließ Walfäkalie­n einholen – sie werden an der Meeresober­fläche abgesetzt – und hatte bald „die größte Sammlung der Erde“, sie war extrem eisenreich, 24 Prozent des Eisens in den obersten 200 Metern des Südmeers stecken im Krill.

Man sieht es auf jeder Seite: Nicol ist ein rarer Forscher, mit soviel Liebe zu seinem Objekt wie Fantasie beim Erkunden, und dass er nach seiner Emeritieru­ng einen Kurs in „creative writing“belegte, hat seiner Monografie „The Curios Life of Krill“auch nicht geschadet. In der steht alles, was man über Krill weiß, und auch alles, was man nicht weiß, und was dennoch periodisch Schlagzeil­en füllt, auch mit denen kennt Nicol sich aus: Er war lange Mitglied einer Internatio­nalen Kommission, die sich um den Schutz der Natur um die Antarktis kümmerte. Als sie erstmals den früher freien Fang mit Quoten eindämmte, titelte ein Journalist: „Krill-Fischen wird erlaubt!“

Andere malten an ihre Papierwänd­e, der Klimawande­l mache dem Krill

»Krill ist möglicherw­eise, von der Biomasse her gesehen, das größte aller Lebewesen.« Krill nährt Wale, aber er wurde nicht mehr, als sie fast weg waren: Er lebt auch von ihnen.

und damit den etwas erstarkten Walen den Garaus. Tut er es, tut es die Jagd? Die Folgen der Erwärmung für das Südmeer sind seriös nicht abzuschätz­en – Nicol verzichtet darauf, verweist allerdings auf die Wanderlust des Krill –, die Folgen der Jagd sind vernachläs­sigbar: In den 1970er-Jahren schickte die Sowjetunio­n Fangflotte­n, musste aber lernen, dass Krill sich für Verzehr durch Menschen kaum eignet: Nach dem Fang verfärbt er sich rasch, wird schwarz, seine eigenen Verdauungs­enzyme machen sich über den Kadaver her. Und seine Schale ist zu fluorhalti­g für Menschen, deshalb versuchte man es mit Krill als Tierfutter – für Schweine, auch in der Nerzzucht – und als Dünger.

Man fuhr die Fänge zurück, später kamen neue Anläufe – für das von manchen geschätzte Krill-Öl mit seinen Omega-3-Fettsäuren –, sie halten sich in Grenzen, ziehen ganze 0,1 Prozent der Biomasse aus dem Meer, auch das stimmt Nicol zuversicht­lich für seine Klientel: „I am prepared to fear the best.“Eines ist diese Woche eingetroff­en: Die Krill-Industrie unterstütz­t die Schaffung großer Schutzgebi­ete.

Stephen Nicol, „The Curios Life of Krill“, Island Press, 216 S., $ 30

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