Wolken im Meer
Auf eines der häufigsten und doch dunkelsten Lebewesen, den Monografie Licht. Sie bietet (auf Englisch) Belehrung und Genuss. Krill, wirft eine
Einige Meter unter der Wasseroberfläche konnte ich eine weißliche Wolke ausmachen, die pink wurde, und dann rot, als sie sich der Oberfläche näherte. Die Wolke wurde zu einem Schwarm tausender Tiere, die sich in die gleiche Richtung bewegten, als hätten sie ein gemeinsames Ziel. Während ich beobachtete, mesmerisiert, wurde die Masse ein lebendes Floß, das sich aus dem Wasser hob und dann zurückfiel wie ein Schauer pinkfarbener Regentropfen.“
Was da in der nordamerikanischen Bay of Fundy erst im und dann aus dem Ozean stieg, war Krill, und wenn man diesen Namen hört, denkt man automatisch an die Kleinsten im Meer, von denen die Größten leben, die Bartenwale, allen voran der Blauwal mit seinen 180 Tonnen, der das halbe Jahr um die Antarktis herum sechs Tonnen am Tag frisst. Er ernährt sich ausschließlich von Krill, und von den angefressenen Reserven zehrt er den Rest des Jahres, den er weit im Norden verbringt. Er machte auch Menschen mit diesem Krustentier vertraut, Walfänger, die seine Mägen aufschnitten.
Und er ist unstrittig das größte aller Tiere. Aber Krill – so heißt er im Singular und im Plural, der Name ist onomatopoetisch dem Geräusch der aus dem Wasser steigenden Wolke nachgebildet – ist mitnichten das Kleinste, und um das zu demonstrieren, hat sich Stephen Nicol einen auf den Arm tätowieren lassen – „der Künstler nahm sich Freiheiten und schuf eine furchterregende hummerartige Kreatur“–, es zeigt die Nähe dieses Meeresbiologen zu seinem Forschungsobjekt: „Krill ist nicht klein“, betont er wieder und wieder, und das gilt nicht nur für die Körpergröße von etwa sechs Zentimetern: „Krill ist möglicherweise, von der Biomasse her gesehen, das größte aller Lebewesen“. Konkurrenz kommt von Rindern (geschätzte 520 Millionen Tonnen) und Menschen (350), aber die sind vergleichsweise leicht zu zählen, bei Krill schwanken die Zahlen zwischen 150 und 400. Die Spanne kommt daher, dass die Hauptmasse der Tiere dort lebt, wo man sie kaum zu Gesicht bekommt, rund um die Antarktis.
Entsprechend wenig weiß man von ihnen: In den 1930er-Jahren holten Forscher die ersten aus dem Meer, sie lebten nicht lange, man legte sie in Formalin und versuchte, aus der unterschiedlichen Größe der Individuen deren Entwicklung und die der Bestände abzuschätzen. Als aber Nicol in den 1960erJahren eine Methode ersann, Krill lebend in Labore und Aquarien zu bringen, brachten sie eine Überraschung mit: Sie wachsen nicht ihr – etwa fünfjähriges – Leben lang vor sich hin, sie können auch schrumpfen und sogar die sexuelle Reife wieder ablegen, wenn ihr Futter knapp wird. Bei dem sind sie nicht wählerisch, sie filtrieren alles aus dem Meer, Phytoplankton, Zooplankton, Fäkalien von Artgenossen. Biologische Pumpen. Die kommen ihnen unausweichlich in die Mäuler, weil sie in Schwärmen unterwegs sind, deren Ausmaße erst in den 1970er-Jahren sichtbar wurden, mit Echolot, später gar mit Satelliten aus dem All: Über 20 Kilometer ziehen sie sich hin, sie umfassen dann zwei Millionen Tonnen Krill. Die wandern wohlkoordiniert in der Nacht zur Meeresoberfläche hinauf und am Tag wieder hinab – bis zum Grund in 4,5 Kilometern Tiefe –, dabei bringen sie nicht nur sich selbst in Bewegung, sondern auch das Meer, sie durchmischen es, sind „biologische Pumpen“, Nicol deutet es an, gezeigt wurde es nun von John Dabiri am Environmental Fluid Dynamics Laboratory in Stanford (Nature 55, S. 497). Und sie wandern auch horizontal bzw. lassen sich von Meeresströmungen mitnehmen, um gedeckte Tische zu finden.
Die füllen sich in der dunklen Jahreszeit an der Unterseite von Packeis mit Algen. Wenn es dann wieder heller wird, warten schon alle, die von Krill leben: Seevögel, Pinguine, Robben, Wale. Als Letztere fast ausgerottet waren, stellte sich für die Forschung die Frage, ob nun seine Beute explosionsartig aufblühen würde („krill surplus“). Und die Fischerei, die die Wale ruiniert hatte, sah sich nach Neuem um: Krill?
Aber dessen Bestände explodierten nicht: Krill nährt Wale nicht nur, er lebt auch von ihnen, das vermutete 2014 die „whale poop hypothesis“: Das Südmeer ist nährstoffarm, ihm mangelt vor allem Eisen, auch Krill braucht es. Und es wird rezykliert, wenn Wale verdauten Krill ausscheiden, daher der Name der Hypothese. Nicol testete sie: Er ließ Walfäkalien einholen – sie werden an der Meeresoberfläche abgesetzt – und hatte bald „die größte Sammlung der Erde“, sie war extrem eisenreich, 24 Prozent des Eisens in den obersten 200 Metern des Südmeers stecken im Krill.
Man sieht es auf jeder Seite: Nicol ist ein rarer Forscher, mit soviel Liebe zu seinem Objekt wie Fantasie beim Erkunden, und dass er nach seiner Emeritierung einen Kurs in „creative writing“belegte, hat seiner Monografie „The Curios Life of Krill“auch nicht geschadet. In der steht alles, was man über Krill weiß, und auch alles, was man nicht weiß, und was dennoch periodisch Schlagzeilen füllt, auch mit denen kennt Nicol sich aus: Er war lange Mitglied einer Internationalen Kommission, die sich um den Schutz der Natur um die Antarktis kümmerte. Als sie erstmals den früher freien Fang mit Quoten eindämmte, titelte ein Journalist: „Krill-Fischen wird erlaubt!“
Andere malten an ihre Papierwände, der Klimawandel mache dem Krill
»Krill ist möglicherweise, von der Biomasse her gesehen, das größte aller Lebewesen.« Krill nährt Wale, aber er wurde nicht mehr, als sie fast weg waren: Er lebt auch von ihnen.
und damit den etwas erstarkten Walen den Garaus. Tut er es, tut es die Jagd? Die Folgen der Erwärmung für das Südmeer sind seriös nicht abzuschätzen – Nicol verzichtet darauf, verweist allerdings auf die Wanderlust des Krill –, die Folgen der Jagd sind vernachlässigbar: In den 1970er-Jahren schickte die Sowjetunion Fangflotten, musste aber lernen, dass Krill sich für Verzehr durch Menschen kaum eignet: Nach dem Fang verfärbt er sich rasch, wird schwarz, seine eigenen Verdauungsenzyme machen sich über den Kadaver her. Und seine Schale ist zu fluorhaltig für Menschen, deshalb versuchte man es mit Krill als Tierfutter – für Schweine, auch in der Nerzzucht – und als Dünger.
Man fuhr die Fänge zurück, später kamen neue Anläufe – für das von manchen geschätzte Krill-Öl mit seinen Omega-3-Fettsäuren –, sie halten sich in Grenzen, ziehen ganze 0,1 Prozent der Biomasse aus dem Meer, auch das stimmt Nicol zuversichtlich für seine Klientel: „I am prepared to fear the best.“Eines ist diese Woche eingetroffen: Die Krill-Industrie unterstützt die Schaffung großer Schutzgebiete.
Stephen Nicol, „The Curios Life of Krill“, Island Press, 216 S., $ 30