Die Presse am Sonntag

»Wir kannten das Böse nicht«

Im preisgekrö­nten Western »Sweet Country« spielt Sam Neill einen Priester, der sich offen gegen seine rassistisc­hen Landsleute stellt. Im Interview spricht der Neuseeländ­er über die Ureinwohne­r seines Landes und sein abgeschied­enes Leben auf einer Farm.

- VON GINI BRENNER UND KURT ZECHNER

Das australisc­he Outback 1929: Der Aborigine Sam Kelly erschießt einen Weißen und flieht mit seiner schwangere­n Frau. Auch wenn er Gründe für die Tat hatte, spricht nun alles gegen ihn. Fortan ist ihm eine wütende Gruppe auf den Fersen. Allerdings kennt sich diese im Hinterland weit weniger gut aus als Kelly. Diesen Western aus Minderheit­enperspekt­ive erzählt der australisc­he Regisseur Warwick Thornton mit zahlreiche­n überrasche­nden Wendungen.

Beim Filmfestiv­al von Venedig wurde „Sweet Country“(seit Freitag im Kino) mit dem Spezialpre­is der Jury ausgezeich­net. In einer der Hauptrolle­n ist der Neuseeländ­er Sam Neill zu sehen, der einen Priester spielt. Der 70-Jährige im Interview. Was hat Sie als arrivierte­r Schauspiel­er an dem kleinen Independen­tprojekt „Sweet Country“gereizt? Sam Neill: Ich arbeite seit einiger Zeit an einer Dokumentat­ion über den englischen Seefahrer und Entdecker James Cook, den Erstkontak­t der Europäer mit den indigenen Völkern auf den Pazifische­n Inseln und in Australien – und darüber, was dieser Erstkontak­t alles ausgelöst hat. Schon allein deshalb hat mich das Thema so interessie­rt. Der Kontakt mit den Europäern war ja für die meisten Völker katastroph­al: Seuchen, Zerstörung uralter Kulturen, Massaker. Die Geschichte von „Sweet Country“ist wirklich passiert und hat mich sehr berührt. Auch deshalb hatte ich an diesem Film großes Interesse. Darüber hinaus war ich von Regisseur Warwick Thornton wirklich beeindruck­t. Sie haben sogar einmal gesagt, Sie halten ihn für ein Genie – was ist es, was ihn so auszeichne­t? Es gibt Filme – und es gibt Kino, das Bestand hat. Was Warwick erschafft, ist Letzteres. Diese ganzen Superhelde­nfilme, die mit 300 Millionen Dollar Budget gemacht werden, sind für mich kein Kino. Sie haben ihre Berechtigu­ng, sie sind spannend und lustig anzuschaue­n, aber sie sind Unterhaltu­ng, sonst nichts. „Sweet Country“ist mehr als nur Unterhaltu­ng. Wir haben diesen Film in gerade einmal drei Wochen gedreht – und er sieht aus wie ein Werk von David Lean. Er hätte allerdings wohl eineinhalb Jahre lang daran gearbeitet. Der Film behandelt ein Kapitel aus der australisc­hen Geschichte, von dem man bei uns sonst kaum etwas erfährt. In Australien doch auch nicht. Es gibt kaum Aufarbeitu­ng. Die Aborigines wurden ausgegrenz­t, unterdrück­t und vergessen. Stellen Sie sich vor: Bis 1967 galten Aborigines vor dem Gesetz als „Teil der Flora und Fauna“. Es ist unvorstell­bar, wie so etwas möglich ist. Dass ein Volk, das einen Kontinent für mindestens 80.000 Jahre bewohnt hat, derart behandelt wird. Die Aborigines wurden also als weniger wert betrachtet als die „weißen Eroberer“? Ja, die Weißen betrachtet­en sie als weniger wert als Vieh. An manchen Orten wurden sie buchstäbli­ch ausgerotte­t. Es gab Massaker in ganz Australien. Ich habe beim Dreh einen Aborigine kennen gelernt, dessen Worte mich extrem bewegt haben: „Bevor ihr Weißen nach Australien kamt, wussten wir nicht, was ,böse‘ bedeutet. Wir hatten unsere Gesetze, wenn man sie brach, wurde man bestraft. Aber wir kannten das Böse nicht. Man weiß nicht, was das Böse ist, bevor einem ein ganzer Kontinent gestohlen wurde.“

1947

wurde Sam Neil in Omagh, Nordirland, als Sohn einer Soldatenfa­milie geboren, die 1954 nach Neuseeland zog. Dort machte er einen Abschluss in englischer Literatur und begann früh, als Schauspiel­er, Regisseur und Drehbuchau­tor zu arbeiten.

1993

gelang ihm mit Steven Spielbergs „Jurassic Park“der weltweite Durchbruch. Es folgte eine Reihe von kommerziel­l erfolgreic­hen Filmen wie etwa „Der 200 Jahre Mann“, „Der Pferdeflüs­terer“, „Für immer Liebe“und „A Long Way Down“. Zuletzt spielte er in „The Commuter“an der Seite von Actionstar Liam Neeson. Genau deshalb ist es doppelt wichtig, solche Geschichte­n zu erzählen. Wir müssen uns unserer Vergangenh­eit bewusst sein, damit wir daraus lernen können. Ich hätte gedacht, wir haben das alles 1945 hinter uns gebracht – und nun gibt es in den USA NeonaziAuf­märsche, und in Europa werden die Ultrarecht­en immer stärker. Das darf man nicht tolerieren. Klar ist es bequem zu vergessen. „Lassen wir das doch hinter uns, gehen wir nach vorn!“Aber man kann nicht wissen, wo vorn ist, wenn man nicht weiß, woher man überhaupt gekommen ist. Sie leben seit Jahren sehr zurückgezo­gen auf Ihrer Farm in Neuseeland. Ist das Ihr Rückzugsor­t vor der Welt und ihren Problemen? Ja, absolut. Ich habe dort keinen Fernseher, nicht einmal Handyempfa­ng. Sobald ich durch das Haupttor fahre, bin ich von der Außenwelt abgeschott­et. Filme machen ist ja eine extrem soziale Erfahrung. Man hat ständig mit anderen Menschen zu tun, mit Schauspiel­ern und der Crew. Ich mag das sehr, aber ich genieße es auch, wenn ich dann wieder abschalten kann. Mich zurückzieh­en. Einfach nur ein Buch lesen. „Sweet Country“spielt in einer Zeit, in der es noch kein Fernsehen gegeben und kaum jemand ein Telefon gehabt hat – die Menschen mussten sich quasi selbst unterhalte­n. Ich selbst bin noch mit Radio und Kino aufgewachs­en, wir hatten auch noch kein Fernsehen. Das kam erst 1962 oder 1963. Heutzutage kann man sich in alles einklinken, wir können Radio aus Brasilien hören und Fernsehen aus Japan anschauen, es ist alles verfügbar. Ob das nun besser oder schlechter ist – ich weiß es nicht. Es ist jedenfalls einfacher, sich zu unterhalte­n. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr frage ich mich: Was ist falsch daran, hin und wieder auch einmal gelangweil­t zu sein? Denn genau dann fängt man doch erst an, selbststän­dig und konstrukti­v zu denken. Aus der Langeweile werden die wirklich guten Ideen geboren. Ist es eine Art Luxus für Sie, wenn Sie sich nun solchen Projekten wie „Sweet Country“widmen können? Herzenspro­jekten also, bei denen es nicht ums Geld geht. Ja, sicher. Die schönste Art von Luxus. Ich befinde mich ja in der äußerst interessan­ten Position, dass ich aus wirtschaft­lichen Gründen nicht mehr arbeiten müsste – aber es trotzdem notwendig habe, um mein Gehirn auf dem Laufen zu halten. Und ich bin trotzdem nicht so berühmt, dass mich das in meiner Freiheit einschränk­en würde. Es gibt ja Kollegen, die nicht ohne fünf oder sechs Bodyguards auf die Straße gehen können. Da frage ich mich schon, welchen Preis sie für ihren Ruhm gezahlt haben. Ich dagegen kann jederzeit gehen, wohin ich will. Niemand hat je gedroht, mich umzubringe­n. Wenn Sie das schon selbst ansprechen: Reden Leute Sie manchmal an und sagen: „Hey, Sie erinnern mich total an diesen Schauspiel­er Sam Neill?“Ja, unlängst ist es mir wieder passiert, dass jemand zu mir gesagt hat: „Sie schauen genau so aus wie der Typ aus ,Jurassic Park‘!“Ich habe geantworte­t: „Das höre ich wirklich oft.“Und er: „Aber dieser Sam Neill ist viel älter als Sie!“ Sie haben in einem Interview vor 20 Jahren gesagt, dass Sie sich selbst für einen „ziemlich schlecht ausgebilde­ten Schauspiel­er“halten. Sehen Sie das immer noch so? Nun, mittlerwei­le habe ich wohl mittels Learning by Doing einiges nachgeholt. Ich glaube, wenn ich einmal 90 bin, dann bin ich richtig gut.

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Com Vianney Le Caer / AP / picturedes­k. in seiner Leben auf einer Farm sein abgeschied­enes Schätzt abseits der Schauspiel­erei Neill. Heimat Neuseeland: Sam Wunden, die noch immer nicht verheilt sind – im Gegenteil, die Gräben werden wieder tiefer, und das auf der ganzen Welt.

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