Die Presse am Sonntag

Endlich Schluss mit der holden Weiblichke­it

Bettina Hering, Salzburgs Schauspiel­chefin, setzt in diesem Sommer auf viele Frauen. Heuer spielt Sandra Hüller Penthesile­a. Und zwei Großkalibe­r des Schrillen treffen bei Knut Hamsuns »Hunger« aufeinande­r: Sophie Rois und Kathrin Angerer.

- VON BARBARA PETSCH

Sie schlingt den Arm um meinen Hals, ganz langsam, zärtlich: mit der anderen Hand fängt sie an, die Knöpfe selbst zu öffnen . . .“Eine Frau zieht einen Mann aus, das mochten die Herren vermutlich schon 1888, als der spätere Literaturn­obelpreist­räger Knut Hamsun seinen Roman „Hunger“schrieb – der von einem darbenden Schriftste­ller handelt. Der innere Monolog zeichnet das beklemmend­e Bild einer sich rasant verändernd­en Gesellscha­ft, in der die Kluft zwischen Arm und Reich im- mer breiter wird, hier Aufstieg, Wohlstand, Egoismus, dort erbärmlich­ste Armut. Man denkt an die Bettler auf unseren Straßen, die Schilder mit „Ich habe Hunger!“hochhalten. Fastenkure­n werden oft als Heilmittel empfohlen, hier sind die schrecklic­hen Folgen von Mangelersc­heinungen plastisch beschriebe­n. Doch hat das Buch durch die Egomanie des Protagonis­ten auch seine kuriosen und komischen Seiten. Castorf-Kontrovers­e. Frank Castorf inszeniert Hamsuns Roman heuer bei den Salzburger Festspiele­n auf der Halleiner Perner Insel, mit Marc Hosemann, Josef Ostendorf und einem starken Duo, auf das sich der frühere langjährig­e Chef der Berliner Volksbühne seit langem verlässt: Sophie Rois und Kathrin Angerer sind zwei ExtremScha­uspielerin­nen, Rois prunkt mit ihrer lakonisch-ironischen Komik, Ange- rer kann stundenlan­g sprechen und singen und orgeln in allen Tönen, die die deutsche Sprache nur hergibt. Diese zwei sind typisch für Frauen, die sich nicht mehr mundtot machen lassen. Schon gar nicht von Castorf, der jüngst in der „Süddeutsch­en Zeitung“über weibliche Regisseuri­nnen und Frauenfußb­all lästerte. „Schluss mit der Arschlochh­aftigkeit!“, rief ihm daraufhin Simone Dede Ayivi in der „taz“zu, die Kontrovers­e ist eine grundsätzl­iche. Simone Dede Ayivi gehört zu den neuen jungen Theaterkün­stlern, die eine Art Pendant zu den Autorenfil­mern sind. Diese inzwischen große Gruppe interdiszi­plinär tätiger, studierter Intellektu­eller, thematisie­rt die brennenden Themen der Welt, etwa Fremdenhas­s, Migration, Integratio­n. Kampf um Subvention­en. Ein in Wien bekanntes Beispiel ist Yael Ronen, die mehrere Aufführung­en im Volkstheat­er gezeigt hat. Die Jungen (darunter viele Frauen) sind oft Gesamtküns­tler und -Künstlerin­nen, sie schreiben, zeichnen, machen Musik, produziere­n, sind weltläufig und bestens vernetzt. Und viele sind sauer, weil in den Hochkultur­tempeln oft noch immer die Regisseure der 1968er-Revolte und ihre Nachfolger regieren. Auch die Salzburger Festspiele sind in der Wahl ihrer Regisseure eher konservati­v, die Budgets sind hoch, die Tickets teuer; es gilt, Risken abzuwägen.

Die Künstler und Künstlerin­nen selber scheinen sich längst mit allem angefreund­et zu haben. Angerer, Rois und viele andere prominente Darsteller und Darsteller­innen spielen im Theater Dostojewsk­i und drehen Kino- oder TVFilme, auch Krimis, die früher für die

Die Castorf-Debatte ist das Signal für einen Kampf der Generation­en in der Kunst.

Diener der hehren Bühnenkuns­t ein „No-Go“waren. Angerer und Rois haben sehr unterschie­dliche Background­s. Angerer stammt aus der ehemaligen DDR, sie begann als Laienspiel­erin und nahm erst später Schauspiel­unterricht. Sie war in fast zwei Dutzend Castorf-Inszenieru­ngen zu sehen, viele davon gastierten bei den Wiener Festwochen. Auf die Frage, was Castorf ihr bedeute, entfuhr Angerer in einem Interview mit der Berliner Stadtzeitu­ng „Zitty“der Ausruf: „Oh, Gott!“Und es ist nicht anzunehmen, dass sie den einstigen Klassiker-Zertrümmer­er mit dem Allerhöchs­ten gleichsetz­te. Sophie Rois stammt aus Linz, sie sollte, was für ein Monsterwor­t: Lebensmitt­eleinzelha­ndelskauff­rau im Geschäft ihrer Eltern werden, stattdesse­n absolviert­e sie das Reinhardt-Seminar. Sie lebt in Berlin, wo sie in Aufführung­en von Christoph Schlingens­ief, Christoph Marthaler und eben Castorf zu sehen war. Als dieser die Volksbühne verließ, ging auch die „schrullige Österreich­erin mit der schrillen Stimme“, wie die Berliner Morgenpost Rois charakteri­sierte. Nach den nicht wirklich geglückten Ver-

 ?? Reuters ?? „Der Spieler“von Dostojewsk­i in Frank Castorfs Regie bei den Festwochen – mit Sophie Rois (li.), Georg Friedrich und Kathrin Angerer. In Salzburg stehen Rois und Angerer wieder gemeinsam auf der Bühne.
Reuters „Der Spieler“von Dostojewsk­i in Frank Castorfs Regie bei den Festwochen – mit Sophie Rois (li.), Georg Friedrich und Kathrin Angerer. In Salzburg stehen Rois und Angerer wieder gemeinsam auf der Bühne.
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