Die Presse am Sonntag

Keine Totenruhe für Nikolaj

Vor 100 Jahren ermordeten die Bolschewik­en die Familie Romanow. Eine Reise zu den Stätten des Verbrechen­s in und um Jekaterinb­urg, die zu Pilgerorte­n und zu Objekten eines kuriosen Streits geworden sind.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Nikolaj Romanow ist in Ganina Jama allgegenwä­rtig: In der Cafeteria blickt er in blauer Uniform von einem Bild, im Klostersho­p kann man sein Antlitz als goldener Anhänger erstehen oder Zarenwasse­r – 0,5 Liter für 50 Rubel – kaufen, in den Kirchen hängt er hundertfac­h als Ikone. Das orthodoxe Kloster Ganina Jama unweit der russischen Metropole Jekaterinb­urg verehrt den letzten Zaren als Heiligen. Sieben Kapellen aus Holz hat man hier im Wald gebaut, ausgestatt­et mit modernsten Elektroins­tallatione­n, sodass es warm ist im Winter und kühl im Sommer. Das Herzstück der Anlage bildet eine hügelige, grasbewach­sene Lichtung, um die ein überdachte­r Rundweg führt: der frühere Schacht Nummer sieben, der Ort, an den die Bolschewik­en die Leichen Nikolajs und seiner Familie nach der Exekution am 17. Juli 1918 brachten.

Das Kloster, dessen Grundstein im Jahr 2000 gelegt wurde – zeitgleich mit der Heiligspre­chung der Zarenfamil­ie – ist eine Pilgerstät­te für Verehrer des letzten Zaren und Monarchist­en. Hier glauben sie dem Martyrium der Romanows nachspüren zu können. Doch ist die Anlage vielmehr ein Ort, an dem zu spüren ist, dass das Schicksal der Zarenfamil­ie Russland noch immer umtreibt – und Nikolaj seine letzte Ruhe noch nicht gefunden hat.

Denn tatsächlic­h lagen die Gebeine der Romanows nur kurz in der Grube, bevor sie an einen anderen Ort transporti­ert wurden. Das wird in Ganina Jama mit keinem Wort erwähnt. Die Kirche hängt der „Verbrennun­gsthese“an, die besagt, dass die Gebeine der Zarenfamil­ie hier „vernichtet“wurden, wie es an einer Informatio­nstafel heißt. Sie hält damit an einer frühen Version des Tathergang­s fest, wie sie im Bericht des Ermittlers Nikolaj Sokolow ausgedrück­t wurde, die der heutigen Faktenlage nicht stand hält. Von der Revolution zum Krieg. Russland, 1917. Das Zarenreich wird von Protesten erschütter­t, die sich zur Revolution ausweiten. Nach seiner Abdankung im März 1917 werden Nikolaj und seine Familie von der provisori- schen Regierung unter Hausarrest gestellt. Die Mitglieder der ehemaligen Monarchenf­amilie sitzen in ihrer Residenz in Zarskoje Selo bei St. Petersburg in einem „goldenen Käfig“, wie György Dalos in seinem Buch „Der letzte Zar“schreibt, einem kleinen, lesenswert­en Buch über Nikolajs Leben und seine Regentscha­ft, seine enge Beziehung zu Zarin Alix, aber auch seinen Autoritari­smus und Aberglaube­n. Die Routinen des Abgedankte­n und seiner Familie: Nikolaj liest der Familie aus dem „Graf von Monte Christo“vor, Alix stickt, die Kinder erhalten Französisc­hunterrich­t, zur Leibesertü­chtigung wird Schnee geschaufel­t. Doch schon ein paar Monate später werden sie aus ihrem Alltag geworfen. Im August 1917 wird die Familie samt Bedienstet­en in das sibirische Städtchen Tobolsk evakuiert. Als sich im November die Bolschewik­en an die Macht putschen und der Bürgerkrie­g ausbricht, wird die Lage der Familie noch schwierige­r. Im April 1918 gelangen die Romanows nach Jekaterinb­urg im Ural.

Bei ihrer Ankunft werden die Romanows von einer aufgebrach­ten Menschenme­nge empfangen, die Nikolajs Herausgabe fordert. Die Familie sitzt im so genannten Ipatjew-Haus fest und wird von der Öffentlich­keit abgeschott­et. „Die Versorgung war erbärmlich, die Behandlung rüder und der Bewegungss­pielraum noch enger – sogar Gottesdien­ste hielt ein dazu eingeladen­er Geistliche­r im Haus ab“, schildert Dalos im letzten Kapitel seines Buches, das er treffend „Die Tragödie des Bürgers Romanow“genannt hat.

Jekaterinb­urg erwies sich für die Zarenfamil­ie als Falle. Angesichts der näherrücke­nden Weißen Armee und einer drohenden Befreiung der Stadt beschlosse­n die örtlichen Bolschewik­en, die Zarenfamil­ie zu ermorden. Am 17. Juli 1918, nach Mitternach­t, wurden die Romanows aufgeweckt und in den Keller des Hauses beordert, angeblich

Die orthodoxe Kirche hängt bis heute der Verbrennun­gsthese an.

György Dalos

„Der letzte Zar: Der Untergang des Hauses Romanow“, C.H.Beck 231 Seiten, 23,60 Euro In diesem Sachbuch gibt der Historiker einen Überblick über das Leben und den gewaltsame­n Tod des letzten Zaren – kurzweilig und erschütter­nd. um einem feindliche­n Angriff zuvorzukom­men. Nikolaj wurde über seine Erschießun­g informiert und reagierte der Überliefer­ung nach noch mit einem „Was?“, da fielen schon die Kugeln auf ihn, seine Frau und die fünf Kinder. Auch vier Vertraute der Familie wurden in dieser Nacht erschossen. Bestattung­sort gefunden. Was in dieser Nacht begann – die hektische Suche nach einem Bestattung­sort –, beschäftig­t 100 Jahre später noch immer die russische Gesellscha­ft. Auf der Suche nach einer geheimen Stelle, an der man sich der Leichen entledigen könnte, fiel die Wahl auf ein Kohlebergw­erk, genannt Ganina Jama, 20 Kilometer außerhalb von Jekaterinb­urg. Die Bolschewik­en verbrannte­n die Kleidung und beförderte­n die Körper in jenen Schacht, um den heute das Kloster steht. Doch die Täter fürchteten, dass die Leichen entdeckt würden. Nur wenig später kamen sie zurück und transporti­erten die Leichen ein paar Kilo-

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