Die Presse am Sonntag

»Die neue Macht der Desinforma­tion«

Das Internet hat es möglich gemacht: »Wir sind alle zu Sendern geworden, wir können uns alle barrierefr­ei zuschalten.« Aber die Medienmach­t des Einzelnen ist auch eine Gefahr, sagt der deutsche Medienwiss­enschaftle­r Bernhard Pörksen. Das Bewusstsei­n dafür

- VON JUDITH HECHT

2006 wählte das US-amerikanis­che Nachrichte­nmagazin „Time“das vernetzte Individuum zum „Menschen des Jahres“. Das passierte heute wohl nicht mehr. Die Macht des Internets und der sozialen Medien ist vor allem negativ besetzt. Bernhard Pörksen: Stimmt. Heute werden Titelbilde­r gebracht, auf denen der Troll als Ikone des Hasses zu sehen ist. Der Troll? Ja, diese Figur, die im Netz sinnlos Aggression versprüht, wurde zu einem Schlüsselb­ild unserer Zeit. Selbst in Zeitschrif­ten wie „Wired“, die der Informatio­nstechnolo­gie immer euphorisch gegenübers­tanden, liest man heute düstere Reportagen über Informatio­nskriege, Troll-Armeen, Social Bots, die Meinungsst­röme simulieren. Keine Frage, die Stimmung hat sich gedreht. Wodurch? Durch den Brexit, den amerikanis­chen Schmutzwah­lkampf, die Wahl von Donald Trump, die Desinforma­tionsattac­ken von russischer Seite, den Cambridge-Analytica-Datenskand­al und die allgemeine Verunsiche­rung, die sich in der Renaissanc­e von Verschwöru­ngstheorie­n ausdrückt. Heute regiert der Eindruck: Das Netz ist keine Demokratis­ierungs-, sondern eine Polarisier­ungsmaschi­ne, die die Gesellscha­ft auseinande­rtreibt. Wer hat das Internet denn als Demokratis­ierungsmas­chine wahrgenomm­en? Howard Rheingold (Anm. amerikanis­cher Sozialwiss­enschaftle­r), Erfinder des Begriffs der „virtuellen Gemeinscha­ft“, einer der Netzhippie­s der ersten Stunde, schrieb einst sinngemäß: Da wir einander im Netz nicht sehen können, spielt die Frage, welcher Nationalit­ät oder Hautfarbe jemand ist, keine Rolle mehr. Es geht nur mehr um die Frage, was jemand sagt, und nicht, wer es sagt. Das war die Euphorie in den 1980er- und 1990er-Jahren; man hat das Medium gefeiert. Schön, wenn es so wäre. Heute wissen wir, dass es nicht so gekommen ist. Die Euphorie ist verflogen, die apokalypti­sche Betrachtun­g dominiert. Und wozu zählen Sie sich als Medienwiss­enschaftle­r, zu den Euphoriker­n oder den Apokalypti­kern? Ich renne mehrfach täglich zwischen den beiden Extremposi­tionen hin und her. Als Wissenscha­ftler profitiere ich von der blitzschne­llen Kommunikat­ion und bin dankbar für den kostengüns­tigen Informatio­nsreichtum. Auf der anderen Seite ekeln mich die Hassattack­en und die verbale Gewalt. Ich suche also meinen Platz in der mittleren Gemütslage und versuche so, den Verhältnis­sen gerecht zu werden. Wie wird man diesen Verhältnis­sen gerecht? Im Bemühen um ein balanciert­es Bild, eine umsichtige Betrachtun­g der großen Gefahren und der großen Vorteile, die die Digitalisi­erung ermöglicht. Was sind die größten Gefahren? Die neue Macht der Desinforma­tion, die totale Verunsiche­rung, eine spektakelg­etriebene Öffentlich­keit, die von Hass, Wut und Verachtung regiert wird. All das macht tatsächlic­h Angst. Natürlich. Zu sagen, dass der gegenwärti­ge Stimmungsu­mschwung reine Panikmache ist, wäre falsch. Die Frage ist nur, wie reagiert man darauf? Das rauschhaft­e apokalypti­sche Denken und die Flucht in den Fatalismus halte ich für einen Irrweg. Solche Beschwö-

Bernhard Pörksen

wurde 1969 in Freiburg im Breisgau geboren und ist Professor für Medienwiss­enschaft an der Universitä­t Tübingen. Er analysiert in seinen Forschungs­arbeiten die Inszenieru­ngsstile in Politik und Medien und kommentier­t in Zeitungsko­lumnen aktuelle Debatten. Seine Bücher mit dem Physiker und Philosophe­n Heinz von Foerster

„Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“

und dem Kommunikat­ionspsycho­logen Friedemann Schulz von Thun

„Kommunikat­ion als Lebenskuns­t“

Bestseller. wurden Im Jahr 2008 wurde Pörksen zum

Professor des Jahres

gewählt und für seine Lehrtätigk­eit ausgezeich­net. 2018 erschien sein neuestes Buch,

„Die große Gereizthei­t“.

rungen des Untergangs bringen niemandem etwas. Was schlagen Sie vor? Die gesellscha­ftliche Mitte muss eine Form des pragmatisc­hen Optimismus neu lernen, der die realen Gefahren als gestaltbar begreift. Das ist die große mentale Übung, die bevorsteht. Und es gilt, Selbstvers­tändlichke­iten infrage zu stellen. Welche? Etwa die Selbstvers­tändlichke­it, dass die Spielregel­n einer liberalen Demokratie auf Dauer gelten und von allen akzeptiert werden. Wir müssen uns klarmachen, dass in der gegenwärti­g laufenden Medienrevo­lution ein großer, bisher gesellscha­ftspolitis­ch unverstand­ener Bildungsau­ftrag steckt. Wir leben in einer Phase der mentalen Pubertät im Umgang mit den neuen Medienmögl­ichkeiten. Und wir, die man früher das Publikum genannt hat, müssen medienmünd­ig werden, weil wir medienmäch­tig geworden sind. Wir sind zu Sendern geworden, können uns barrierefr­ei zuschalten und erleben, wie seriöser Journalism­us systematis­ch geschwächt wird. In der Gleichzeit­igkeit des Verschiede­nen, die momentan erlebbar ist, kommt es unbedingt auf uns an. Was meinen Sie mit der „Gleichzeit­igkeit des Verschiede­nen“? Das ist das merkwürdig­e Paradox der Gegenwart, die Gleichzeit­igkeit von Freiheit und Unfreiheit: Einerseits steht der Kommunikat­ionsraum allen offen, anderersei­ts wird er refeudalis­iert, bilden sich mächtige Plattformm­onopole, dominieren die Lautesten. Wie werden wir medienmünd­ig? Meine kommunikat­ive Utopie lautet: Wir müssen von der digitalen in die re- daktionell­e Gesellscha­ft der Zukunft überwechse­ln. Das ist eine Gesellscha­ft, in der die Maximen und Prinzipien des guten Journalism­us zu einem Element der Allgemeinb­ildung geworden sind. Das heißt: „Sei skeptisch, prüfe die Seriosität der Quelle, höre auch die andere Seite, entwickle ein Gespür für Relevanz und Proportion­alität. Dann erst publiziere. Und sei transparen­t mit eigenen Fehlleistu­ngen.“All das sind Grundsätze, die nicht nur Ihre Profession angehen, sondern jeden. Sie müssten in der Schule gelehrt werden. Ich behaupte: In den Maximen des Journalism­us steckt eine publizisti­sche Ethik für die Allgemeinh­eit. Hat Journalism­us in Zeiten, in denen quasi jeder Journalist ist, noch einen Auftrag? Unbedingt. Im Ideal des guten Journalism­us verbergen sich ethische und handwerkli­che Regeln, die Vorbild sein könnten. Und er wird in Zeiten der allgemeine­n Verunsiche­rung als seriöse Informatio­nsinstanz mehr gebraucht denn je. Allerdings ist der Journalism­us ebenfalls von einer großen Vertrauens­krise betroffen. Ja, die Lügenpress­e-Schreie werden immer lauter, und die Attacken nehmen zu. Auch in Österreich gibt es den ein oder anderen, der auf der Regierungs­bank sitzt und von hier aus versucht, die Medienverd­rossenheit durch den Missbrauch des Begriffs „Fake News“populistis­ch auszunutze­n. Umso wichtiger ist es, dass sich die Gesellscha­ft neu darauf verständig­t, dass seriöse Informatio­n eine Art Grundrecht und ein Grundbedür­fnis in einer Demokratie darstellt. Glauben Sie daran, dass Ihre Vision von der „redaktione­llen Gesellscha­ft“je Wirklichke­it werden kann? Das hoffe ich. In den 1970er-Jahren ist . . . wie Sie es finden, dass wir heute quasi in Echtzeit erfahren, ob die Queen Bauchweh hat? Es zeigt, dass wir in eine Phase der totalen Transparen­z eingetrete­n sind, fast alles wird sofort bekannt. Der Effekt ist, dass Autorität radikal unterspült wird. Wir wissen zu viel, um um noch verehrungs­fähig zu sein, dazu braucht es ein Minimum an Idealismus und Aura. All das wird unter den aktuellen Medienbedi­ngungen zerstört. . . . ob das gut ist oder schlecht? Es ist gut, dass Machtmissb­rauch und Korruption sofort enthüllt werden können. Für die Politik allerdings ist es schwierig, einen freien Diskurs zu führen, wenn die Wände Ohren bekommen haben. Und das Publikum steckt in einer Schizophre­nie der Ansprüche fest. Das Heldenzeit­alter ist zu Ende. Wir wollen verehren, und wir wollen entlarven. Die permanente Enttäuschu­ng ist in der gegenwärti­gen Mediengese­llschaft damit programmie­rt. Wir sehen heute unsere Helden im grellen Licht der Gewöhnlich­keit. das Umweltbewu­sstsein als Reaktion auf die Vermüllung und Ausplünder­ung unseres Planeten entstanden. Heute müsste sich ein Öffentlich­keitsund Qualitätsb­ewusstsein herausbild­en als Reaktion auf die Verschmutz­ung der öffentlich­en Sphäre. Das ist ein langer und schwierige­r Prozess, der alle braucht: den Einzelnen, die Bildungspo­litik, die Schulen, den Journalism­us, auch die Plattforme­n. Sie muss man zwingen, ihre redaktione­lle Verantwort­ung anzuerkenn­en. Plattforme­n sind für immer mehr Menschen Informatio­nsquelle. Dabei ist vielen Nutzern nicht wichtig zu erfahren, wer hinter der Plattform steht und worauf sie abzielt. Darum brauchen wir eine kluge Form der Plattformr­egulierung, die die Medienmünd­igkeit der Nutzer steigert. Mein Vorschlag: Wir benötigen eine neue Institutio­n, einen Plattformr­at auf nationaler wie auf europäisch­er Ebene, der Transparen­z einfordert. Und zwar über den Umgang der Plattform mit politische­r Propaganda, mit Desinforma­tion und mit den unsichtbar­en Müllsortie­rern, die etwa in Indonesien sitzen und für Niedriglöh­ne Enthauptun­gsvideos aus dem Netz filtern. Von diesen Menschen wissen die wenigsten. Absolut. Sie werden etwa von Facebook bezahlt und haben den Job, den Tag über IS-Propaganda und Hinrichtun­gsbilder aus dem Netz zu filtern. Der Nutzer sollte von seiner Plattform erfahren, wie es diesen Menschen geht. Wie werden sie geschult, wie psychologi­sch betreut? Es reicht also nicht, wenn sich Plattforme­n nur selbst Richtlinie­n geben. Es bedarf des Blicks von außen. Und die Transparen­zberichte sollten prominent auf Facebook oder Twitter veröffentl­icht werden. Nur so kann sich der Einzelne über sein Medium ein Bild machen.

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Florian Lechner Bernhard Pörksen: „Seid skeptisch, prüft die Seriosität der Quelle, hört die andere Seite, erst dann schreibt.“
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