Die Wälder der Meere
Die Braunalgen des Kelp bieten vielen Arten und Küsten Schutz. Sie selbst brauchen ihn auch, Seeigel und Menschen können ihnen zusetzen.
Die großen aquatischen Wälder kann ich nur mit den terrestrischen der Tropen vergleichen. Und ich glaube nicht, dass bei der Zerstörung eines Waldes in irgendeinem Land so viele Tierarten verschwinden würden wie bei der Zerstörung des Kelp.“Das notierte Charles Darwin am 1. Juni 1834, als die Beagle bei Feuerland durch die Magellanstraße segelte, und er fürchtete bei einem Zusammenbruch dieser Wälder des Meeres nicht nur das Aussterben unzähliger Tiere, sondern „vielleicht auch das der Feuerländer“.
Was ist das für ein Wunderwald, der Kelp? Er besteht aus Braunalgen, die sich von felsigem Grund bis zu 40 Meter in die Höhe strecken, mit enormer Geschwindigkeit. Diese Algen können in drei Jahren 15 Meter zulegen; Wald auf dem Land braucht rund 20 Jahre, dafür ist er langlebiger – das Höchstalter der Algen liegt bei 25 Jahren, in denen sie ihre Umwelt gestalten. Sie schaffen Strukturen und Lichtverhältnisse, in denen viele Arten gedeihen – Robert Miller (UC Santa Barbara) hat es gerade gezeigt (Proc. Roy. Soc. B 285: 20172571) –, und in denen sie viel aushalten müssen: immer schon gefräßige Mäuler, Stürme – Kelp bildet Schutzwälder vieler Küsten –, in letzter Zeit zudem Menschgemachtes wie Umweltschmutz und Erwärmung.
Aber Menschen rücken dem Kelp auch direkt zu Leibe, sie nutzten die Algen früh als Nahrung und Dünger, später auch als Rohstoffquelle: „So haben die Lairds in den schottischen Hochländern mit der Zeit, da man den Nutzen von Kelp (einem Seekraute, von dem die Asche zum Glasblasen gebrauchet wird), die Preise umso mehr erhöht, je begieriger die Asche dieses Krauts aufgekauft wird.“
Das berichtete das Leipziger „Magazin zur Naturkunde und Oekonomie“1786, und was da für die Glasindustrie gebraucht wurde, war Kaliumkarbonat vulgo Pottasche – daher der englische Name für Kalium: „potassium“–, dafür verbrannte man Kelp, und wie! Nach Napoleons Seeblockade 1806 loderten die Feuer auf den Orkneys in derartigem Ausmaß, dass unter dem Qualm keine Feldfrüchte mehr gediehen. Zu diesem Zweck holt man heute Kelp nicht mehr aus dem Meer, es geht in geringem Maß um Spurenelemente wie Jod, in größerem um Futter für die Aquakultur – in ihr wird auch der überwiegende Teil des Kelp gezogen –, in ganz großem um Carrageen. Das sind Kohlehydrate, die etwa als Lebensmittelzusätze Verwendung finden; über die Hälfte des Umsatzes von knapp über einer Milliarde Dollar wurde 2014 damit gemacht (World Aquaculture, June 2014, S. 32).
Direkt gegessen haben Kelp wohl die Menschen, die vor 14.000 Jahren an der Küste Chiles lebten, in einem Ort, den Ausgräber Monteverde II nannten und in dem sie Spuren der Algen fanden: Das stärkte die Hypothese vom „Kelp Highway“, derzufolge Amerika nicht über Land besiedelt wurde, sondern von Seefahrern, die von Sibirien aus den fruchtbaren Küstenwäldern folgten. 2007 publizierte Jon Erlandson die Idee (Journal of Island & Coastal Archaeology 2:161), lang erntete er Kopfschütteln, weil man auf eine Einwanderung über die in der Eiszeit trocken gefallene Beringstraße setzte. Aber in deren Szenario hätte vor 14.000 Jahren niemand in Chile sein können, auch nicht raschesten Fußes: Im Norden Amerikas bildeten kilometerhohe Gletscher unüberwindbare Hürden. Seeigelwüsten. Aber Menschen rückten dem Kelp nicht nur direkt zu Leibe, sondern ohne jede Absicht, dafür mit viel ärgeren Folgen auch durch Jagd, zunächst die auf Seeotter. Bei ihr ging es um die Pelze, und Ende des 19. Jahrhunderts waren die Tiere an vielen Küsten Nordamerikas fast ausgerottet, bald verschwanden auch die Schutzwälder, und die Küsten erodierten. Das ist an jenen gelegen, von denen sich Seeotter nähren und die ihrerseits vom Kelp leben: Seeigel, sie können Wälder in kürzester Zeit zum Verschwinden fressen – in „Seeigelwüsten“verwandeln –, wenn sie nicht „top down“in Schach gehalten werden.
Das wurden sie wieder, als die Seeotter unter Schutz gestellt waren und sich erholt hatten, aber dann brachen, Mitte der 1990er–Jahre, wieder Wälder zusammen, wieder dezimierter Seeotter wegen, diesmal umwegiger, am Anfang stand der Walfang: Er bescherte den anderen Waljägern, den Orcas, Futtermangel, sie behalfen sich erst mit Robben, dann mit Seeottern (Science 279, S. 860). Ihnen und den Wäldern brachte das Walfangverbot Entspannung, zudem senkte die Fischerei ihre Netze immer tiefer in die Nahrungskette und war bald selbst hinter Seeigeln her.
Aber 2014/15 brachen die Wälder vor British Columbia, Kanada, wieder zusammen, das zeigte, dass lang übersehene Dritte im Spiel sind: Sonnenblumenseesterne, ihre Bestände wurden durch eine Krankheit um 96 Prozent dezimiert. Die der Seeotter waren völlig intakt, aber sie allein wurden der Seeigel nicht Herr, Jenn Burt (Burnaby) hat den Grund gefunden (Proc. R. Soc. B., 13. 8.): Seeotter sind hinter großen Seeigeln her, kleinere werden von den Seesternen gejagt.
Aber Kelp ist nicht nur den Kräften der Biologie ausgesetzt, auch die der Physik zerren an ihm: Stürme können die oberste Etage dieser Wälder kurz und klein schlagen – im Gegenzug profitiert der Unterwuchs vom neu gewonnenen Licht –, und Meeresströmungen können die riesigen Blätter weit tragen, von Georgia in den USA bis in die Antarktis, Ceridwen Fraser (Acton) rekonstruierte die Herkunft dort gestrandeten Kelps mit Genanalysen (Nature Climate Change, 16. 7.). Das versetzte manche Ökologen in so helle Aufregung, dass Nathan Putman (Bryan) einen Begleitkommentar mit „Waves of Invasion“überschrieb: Man ist davon ausgegangen, dass die Antarktis durch ihre Entlegenheit und den um sie kreisenden Zirkumpolarstrom, vom Rest der Erde abgeschnitten ist.
Und nun haben Wind und Wellen Kelp gebracht! Aber dieser macht sich auch ganz allein auf den Weg, im Zuge der Erwärmung der Meere kommt er ins Wandern, in kühlere Bereiche, bei Japan etwa nach Norden. Aber andere wandern wärmebedingt auch: Korallen. Auch sie ziehen nach Norden, und zwar rascher als der Wald, sie holen ihn ein und überrennen ihn, zudem beherbergen sie noch etwas, was ihn zernagt: pflanzenfressende Fische. Damit kommt auf den Kelp eine ganz neue Bedrohung zu (Pnas, 20. 8.), Naoki Kumagai (Tsukuba) hat das festgestellt und ruft zum Schutz des Kelp auch vor Korallen auf.
Menschen rückten Kelp auch indirekt auf den Leib, durch Jagd auf Seeotter und Wale. Kelp ist auch den Kräften der Physik ausgesetzt, Stürme können ihn zerschlagen.