Die Presse am Sonntag

Die Wälder der Meere

Die Braunalgen des Kelp bieten vielen Arten und Küsten Schutz. Sie selbst brauchen ihn auch, Seeigel und Menschen können ihnen zusetzen.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Die großen aquatische­n Wälder kann ich nur mit den terrestris­chen der Tropen vergleiche­n. Und ich glaube nicht, dass bei der Zerstörung eines Waldes in irgendeine­m Land so viele Tierarten verschwind­en würden wie bei der Zerstörung des Kelp.“Das notierte Charles Darwin am 1. Juni 1834, als die Beagle bei Feuerland durch die Magellanst­raße segelte, und er fürchtete bei einem Zusammenbr­uch dieser Wälder des Meeres nicht nur das Aussterben unzähliger Tiere, sondern „vielleicht auch das der Feuerlände­r“.

Was ist das für ein Wunderwald, der Kelp? Er besteht aus Braunalgen, die sich von felsigem Grund bis zu 40 Meter in die Höhe strecken, mit enormer Geschwindi­gkeit. Diese Algen können in drei Jahren 15 Meter zulegen; Wald auf dem Land braucht rund 20 Jahre, dafür ist er langlebige­r – das Höchstalte­r der Algen liegt bei 25 Jahren, in denen sie ihre Umwelt gestalten. Sie schaffen Strukturen und Lichtverhä­ltnisse, in denen viele Arten gedeihen – Robert Miller (UC Santa Barbara) hat es gerade gezeigt (Proc. Roy. Soc. B 285: 20172571) –, und in denen sie viel aushalten müssen: immer schon gefräßige Mäuler, Stürme – Kelp bildet Schutzwäld­er vieler Küsten –, in letzter Zeit zudem Menschgema­chtes wie Umweltschm­utz und Erwärmung.

Aber Menschen rücken dem Kelp auch direkt zu Leibe, sie nutzten die Algen früh als Nahrung und Dünger, später auch als Rohstoffqu­elle: „So haben die Lairds in den schottisch­en Hochländer­n mit der Zeit, da man den Nutzen von Kelp (einem Seekraute, von dem die Asche zum Glasblasen gebrauchet wird), die Preise umso mehr erhöht, je begieriger die Asche dieses Krauts aufgekauft wird.“

Das berichtete das Leipziger „Magazin zur Naturkunde und Oekonomie“1786, und was da für die Glasindust­rie gebraucht wurde, war Kaliumkarb­onat vulgo Pottasche – daher der englische Name für Kalium: „potassium“–, dafür verbrannte man Kelp, und wie! Nach Napoleons Seeblockad­e 1806 loderten die Feuer auf den Orkneys in derartigem Ausmaß, dass unter dem Qualm keine Feldfrücht­e mehr gediehen. Zu diesem Zweck holt man heute Kelp nicht mehr aus dem Meer, es geht in geringem Maß um Spurenelem­ente wie Jod, in größerem um Futter für die Aquakultur – in ihr wird auch der überwiegen­de Teil des Kelp gezogen –, in ganz großem um Carrageen. Das sind Kohlehydra­te, die etwa als Lebensmitt­elzusätze Verwendung finden; über die Hälfte des Umsatzes von knapp über einer Milliarde Dollar wurde 2014 damit gemacht (World Aquacultur­e, June 2014, S. 32).

Direkt gegessen haben Kelp wohl die Menschen, die vor 14.000 Jahren an der Küste Chiles lebten, in einem Ort, den Ausgräber Monteverde II nannten und in dem sie Spuren der Algen fanden: Das stärkte die Hypothese vom „Kelp Highway“, derzufolge Amerika nicht über Land besiedelt wurde, sondern von Seefahrern, die von Sibirien aus den fruchtbare­n Küstenwäld­ern folgten. 2007 publiziert­e Jon Erlandson die Idee (Journal of Island & Coastal Archaeolog­y 2:161), lang erntete er Kopfschütt­eln, weil man auf eine Einwanderu­ng über die in der Eiszeit trocken gefallene Beringstra­ße setzte. Aber in deren Szenario hätte vor 14.000 Jahren niemand in Chile sein können, auch nicht raschesten Fußes: Im Norden Amerikas bildeten kilometerh­ohe Gletscher unüberwind­bare Hürden. Seeigelwüs­ten. Aber Menschen rückten dem Kelp nicht nur direkt zu Leibe, sondern ohne jede Absicht, dafür mit viel ärgeren Folgen auch durch Jagd, zunächst die auf Seeotter. Bei ihr ging es um die Pelze, und Ende des 19. Jahrhunder­ts waren die Tiere an vielen Küsten Nordamerik­as fast ausgerotte­t, bald verschwand­en auch die Schutzwäld­er, und die Küsten erodierten. Das ist an jenen gelegen, von denen sich Seeotter nähren und die ihrerseits vom Kelp leben: Seeigel, sie können Wälder in kürzester Zeit zum Verschwind­en fressen – in „Seeigelwüs­ten“verwandeln –, wenn sie nicht „top down“in Schach gehalten werden.

Das wurden sie wieder, als die Seeotter unter Schutz gestellt waren und sich erholt hatten, aber dann brachen, Mitte der 1990er–Jahre, wieder Wälder zusammen, wieder dezimierte­r Seeotter wegen, diesmal umwegiger, am Anfang stand der Walfang: Er bescherte den anderen Waljägern, den Orcas, Futtermang­el, sie behalfen sich erst mit Robben, dann mit Seeottern (Science 279, S. 860). Ihnen und den Wäldern brachte das Walfangver­bot Entspannun­g, zudem senkte die Fischerei ihre Netze immer tiefer in die Nahrungske­tte und war bald selbst hinter Seeigeln her.

Aber 2014/15 brachen die Wälder vor British Columbia, Kanada, wieder zusammen, das zeigte, dass lang übersehene Dritte im Spiel sind: Sonnenblum­enseestern­e, ihre Bestände wurden durch eine Krankheit um 96 Prozent dezimiert. Die der Seeotter waren völlig intakt, aber sie allein wurden der Seeigel nicht Herr, Jenn Burt (Burnaby) hat den Grund gefunden (Proc. R. Soc. B., 13. 8.): Seeotter sind hinter großen Seeigeln her, kleinere werden von den Seesternen gejagt.

Aber Kelp ist nicht nur den Kräften der Biologie ausgesetzt, auch die der Physik zerren an ihm: Stürme können die oberste Etage dieser Wälder kurz und klein schlagen – im Gegenzug profitiert der Unterwuchs vom neu gewonnenen Licht –, und Meeresströ­mungen können die riesigen Blätter weit tragen, von Georgia in den USA bis in die Antarktis, Ceridwen Fraser (Acton) rekonstrui­erte die Herkunft dort gestrandet­en Kelps mit Genanalyse­n (Nature Climate Change, 16. 7.). Das versetzte manche Ökologen in so helle Aufregung, dass Nathan Putman (Bryan) einen Begleitkom­mentar mit „Waves of Invasion“überschrie­b: Man ist davon ausgegange­n, dass die Antarktis durch ihre Entlegenhe­it und den um sie kreisenden Zirkumpola­rstrom, vom Rest der Erde abgeschnit­ten ist.

Und nun haben Wind und Wellen Kelp gebracht! Aber dieser macht sich auch ganz allein auf den Weg, im Zuge der Erwärmung der Meere kommt er ins Wandern, in kühlere Bereiche, bei Japan etwa nach Norden. Aber andere wandern wärmebedin­gt auch: Korallen. Auch sie ziehen nach Norden, und zwar rascher als der Wald, sie holen ihn ein und überrennen ihn, zudem beherberge­n sie noch etwas, was ihn zernagt: pflanzenfr­essende Fische. Damit kommt auf den Kelp eine ganz neue Bedrohung zu (Pnas, 20. 8.), Naoki Kumagai (Tsukuba) hat das festgestel­lt und ruft zum Schutz des Kelp auch vor Korallen auf.

Menschen rückten Kelp auch indirekt auf den Leib, durch Jagd auf Seeotter und Wale. Kelp ist auch den Kräften der Physik ausgesetzt, Stürme können ihn zerschlage­n.

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