Die Konstante Dominic Thiem
Nur Rafael Nadal hält sich länger ununterbrochen in den Top Ten als Dominic Thiem. Bei den World Tour Finals in London möchte der 25-Jährige erstmals ins Halbfinale vorstoßen.
Zum zehnten Mal in Folge ist London ab heute Mittag Schauplatz der ATP World Tour Finals, dem exklusiven Klassentreffen der acht besten Tennisprofis des Jahres 2018. So die Theorie, denn mit dem Weltranglistenzweiten Rafael Nadal (Knie, Sprunggelenk) und dem Weltranglistenvierten Juan Martin del Potro (Knie) mussten gleich zwei Hochkaräter ihr Antreten verletzungsbedingt absagen. Dass Österreichs Beitrag zur Weltklasse, Dominic Thiem, zum dritten Mal en suite in der O2 Arena aufschlägt, ist also nicht bloß ein Beleg für seine spielerischen, sondern auch für seine physischen Qualitäten am Ende einer langen Saison.
Thiem hatte sich sein Ticket für London unabhängig von den Absagen Nadals und Del Potros erspielt, die Jahreswertung weist ihn auf Platz acht aus. Die Qualifikation für die World Tour Finals kommt einem sportlichen Ritterschlag gleich, weil sie von Konstanz zeugt, nicht durch Zufälle oder OneHit-Wonder zustande kommt. 2018 haben sich neue Konkurrenten um einen der acht begehrten Plätze aufgetan. Sie kommen aus aller Herren Länder, heißen unter anderem Karen Chatschanow (22), Borna C´oric´ (21) oder Stefanos Tsitsipas (20). Thiem konnte die Angriffe der jüngeren Konkurrenz, über das Jahr gesehen, erfolgreich abwehren, bei genauerer Betrachtung ist die Konstanz des Lichtenwörthers ohnehin erstaunlich.
Seit dem 6. Juni 2016 steht der Rechtshänder ununterbrochen in den Top Ten der Weltrangliste, nur Nadal hat eine, wohlgemerkt, weitaus längere Serie aufzuweisen. Der Spanier gehört diesem elitären Kreis seit April 2005 (!) an, obwohl er wie kaum ein zweiter Profi durch Verletzungen immer wieder aus der Bahn geworfen wurde.
Um mit Nadals noch nicht beendeter Serie nach jetzigem Stand gleichzuziehen, müsste Thiem also auch noch im Jänner 2029, mit 36 Jahren, in den Top Ten der Rangliste stehen . . .
Auf Sand gilt der aktuelle Weltranglistenachte ohnehin als legitimer Nachfolger des Mallorquiners, viel markanter aber waren in der laufenden Saison Thiems Fortschritte auf Hartplatz. Der 25-Jährige hat sein Spiel adaptiert und verbessert, speziell an Return und Aufschlag – auf Hartplatz noch bedeutender – gearbeitet. Auch an der Platz- und vor allem Returnposition, die er selbst während eines Matches immer wieder verändert, wurde gefeilt. Besonders augenscheinlich wurde diese Veränderung beim Dreisatzsieg im US-Open-Achtelfinale gegen den Südafrikaner Kevin Anderson, der auch heute (15 Uhr, live auf Sky) sein Auftaktgegner in London ist. Die weiteren Konkurrenten: Kei Nishikori und Roger Federer. Die Top zwei jeder Gruppe erreichen das Halbfinale. Trendwende. Was dezidiert Hoffnung auf ein gelungenes Abschneiden in London macht, ist die Tatsache, dass Thiem erstmals in seiner Karriere ein starkes letztes Saisonviertel spielt. Bei den US Open in New York Anfang September erreichte er das Viertelfinale, es folgten zwei Siege beim Daviscup gegen Australien in Graz und der Premierentitel in der Halle (St. Petersburg). Bei seinem Heimturnier in Wien rehabilitierte sich der elffache Titelträger für das Auftakt-Aus in Shanghai, unmittelbar vor den World Tour Finals überzeugte Thiem in Paris mit dem erstmaligen Halbfinaleinzug bei einem ATP-1000-Event auf Hartplatz.
Beginnend mit den US Open hält Österreichs zweiterfolgreichster Tennisspieler aller Zeiten bei einer 16:3-Matchbilanz und spricht „vom ersten guten Herbst meiner Karriere.“Im Vergleichszeitraum 2017 standen sechs Niederlagen nur sieben Siege gegenüber. Die Bilanzen in den Jahren 2016 (8:6), 2015 (7:7) und 2014 (5:6) waren ebenso nicht zufriedenstellend.
Auf der Zielgeraden dieser Saison wirkt Thiem frischer als in den Jahren zuvor, körperlich wie auch mental. Der Hauptgrund dafür, so irritierend es auch klingen mag: Verletzungspech und Krankheiten im Laufe des Jahres. So musste der Niederösterreicher Anfang März in Indian Wells (Knöchel) aufgeben und zugleich für das Folgeturnier in Miami passen. In Wimbledon stoppte ihn eine Rückenblessur – und vor Cincinnati setzte ihn eine Virusinfektion außer Gefecht. Kurzfristig waren das allesamt Rückschläge, langfristig hatte Thiem dadurch jedoch längere, tennisfreie Perioden und sagt nun, Anfang November: „Die Pausen hatten auch etwas Gutes. Ich habe das Glück, dass ich mich jetzt frisch fühle.“
Perfekt war Dominic Thiems Saison 2018, unabhängig vom Ausgang der World Tour Finals, längst nicht. Das sieht auch Bresnik so: „Ich bin überzeugt, dass er weiß, dass er noch viel besser spielen kann“, sagt der 57-Jährige, dessen Schützling vor allem auf Ebene der neun ATP-1000-Events im Vergleich zur übrigen Weltspitze immer noch Aufholbedarf hat.
Chatschanow, ´Cori´c, Tsitsipas: Die nächste Generation macht Druck, auch auf Thiem. Seit den US Open hat Thiem 16 von 19 Matches gewonnen – sein erster starker Herbst.
Als beste Ergebnisse stehen das Finale von Madrid (Niederlage gegen Alexander Zverev) und das Halbfinale von Paris (Niederlage gegen Karen Chatschanow) zu Buche. Schwer ins Gewicht fallen allerdings Absagen (Miami, Cincinnati), Aufgaben (Indian Wells) und Auftaktniederlagen (Rom, Toronto, Schanghai). Gute Ergebnisse bei den Masters-Turnieren, wie sie auch genannt werden, sind auch deshalb so wichtig, weil sie zwölf Monate Bestandteil der Weltrangliste sind, also voll zählen. Thiem hat dort nur 31 Prozent (1215 Punkte) seiner Gesamtpunkte geholt, der Weltranglistenfünfte Zverev als Spitzenreiter hingegen beachtliche 64 Prozent (3300 Punkte).