Eine Maus, der man gern in
Die berühmteste Maus der Welt wird gerade 90 Jahre alt. Walt Disneys Mickey Mouse, mal frech, mal spießig, begleitete Generationen. Und erhält jetzt die Chronik seines Lebens.
Es begann mit einer Reise quer über einen Kontinent. Der Mann, der da im März 1928 mit seiner Ehefrau im Zug von New York nach Hollywood saß, hatte genug Stoff zum Nachdenken. Vor allem über eine schmerzliche Niederlage. Es war Walt Disney, er hatte sich die Zeichentrickfigur Oswald der lustige Hase ausgedacht, sie den Universal Filmstudios angeboten, und jetzt war er ausgebootet worden. Wollte er seine Existenz retten, brauchte er eine Idee. Da fiel ihm die Maus ein, die als kleiner Quälgeist sein Studio in Kansas heimgesucht hatte: Um sie zu zeichnen, brauchte er nur zwei große Kreise für Körper und Kopf, zwei kleine für die Ohren, Arme und Beine wie Gummischläuche.
Die genialsten Ideen entstammen der puren Verzweiflung. Mickey Mouse kam in diesem Zug zur Welt, der Name stammte von Disneys Frau Lilly. Die ambitionierten Eltern stellten hohe Ansprüche an ihr Kind: Es sollte möglichst schnell auf die Leinwand und eine Persönlichkeit werden, mindestens wie Charlie Chaplin. Das wissen wir von Disney selbst: „Wir dachten ein bisschen an eine Maus, die etwas von Chaplins Sehnsucht hätte ... ein kleiner Kerl, der in allem so gut wie möglich sein wollte.“
Ein Optimist, der den Kopf voller Flausen hat und öfter auf die Nase fällt.
Das sahen auch die Kritiker so, die das Verschwinden des Stummfilms mit seiner faszinierenden eigenen Bildsprache noch nicht verwunden hatten und nun alles Mögliche in diesen ersten Animationsfilm mit Ton hineininterpretierten. Er hieß „Steamboat Willie“und hatte am 18. November 1928 als Vorfilm Premiere, ein „Talkie“, kein Stummfilm mehr. Publikum und Kritik waren hellauf begeistert, Bild und Ton waren synchron, bis zuletzt hatte Disney nicht geglaubt, dass das funktionieren könnte. Mit Ton ist 1928 gemeint: Musik, nicht Stimmen. Der einzige, der in dem Film sprach, war ein Papagei, man verstand ihn kaum.
Ub Iwerks (der Mann hieß wirklich so, seine Vorfahren stammten aus Ostfriesland) zeichnete die anthropomorphe Mäusefigur mit der übergroßen schwarzen Nase, den runden Ohren und dem demonstrativen Grinsen. Mickey wurde zur populärsten Zeichentrickfigur aller Zeiten. Heute gibt es (fast) keine Menschen mehr, die in einer Welt ohne Mickey Mouse gelebt haben. Der kleine Bursche mit seiner optimistischen Lebenseinstellung, seinem Kopf voller Flausen, der ihm noch dazu von Minnie Mouse verdreht wurde, wurde ein Symbol für Spaß und Optimismus und mit der Zeit mit Disney gleichgesetzt. Und dieser mit seiner Figur. Maus mit sonnigem Gemüt. Disney wunderte sich selbst darüber, welchen Kult man in den 30er-Jahren mit der Figur trieb. „Wir konnten damals alles in die Filme packen, und die Leute mochten es.“Eine Maus mit einer zugegebenermaßen genial gezeichneten Physiognomie und einem sonnigen Gemüt wurde zu einem der großen Phänomene der Mediengeschichte und zum Liebling der Modernisten. Designer analysierten die zeichnerische Linie mit den einfachen Kreisformen als Ideal an Reduktion und Ausdruck. Das New Yorker Museum of Modern Art nannte Mickey den „beliebtesten Surrealisten der Welt“, der in der „Omnipotenz des Traums“herumtollt. Und Irving Berlin nannte 1934 in seinem Song „You’re the Top!“Mickey in einer Reihe mit dem Kolosseum und der Mona Lisa. Die Menschen würden in ihm ihr eigenes Leben erkennen, so der Philosoph Walter Benjamin. „Wir versuchen nur, einen guten Film zu machen. Und dann kommen die Professoren und sagen uns, was wir tun“, sagte Walt Disney zu alldem. Maskottchen in der Depression. Wir schreiben gerade die Jahre der Weltwirtschaftskrise. Auch das erklärt den Erfolg. Es gab nicht viel zu schmunzeln in den Dreißigerjahren, in Amerika nicht und nicht in Europa. Güte und Loyalität waren in Jahren der politi- schen Unruhe und wirtschaftlichen Depression ein Luxus, den sich nicht jeder leisten konnte. Durchhaltevermögen war gefragt und gelegentlich auch eine Portion Unbekümmertheit, um nicht draufzugehen. Es musste irgendwie weitergehen, wenn man auf die Nase fiel.
Dieses Talent verkörperte Mickey, er fiel oft auf die Nase, aber er sah dort, wo sich vor den gequälten Zeitgenossen Hindernisse auftürmten, auch eine Chance oder zumindest die Möglichkeit, die Schwierigkeiten hinter sich zu lassen, ohne seinen Humor zu verlieren. Seine Bewunderer sahen: Mit dieser Haltung könnte die Welt eine bessere werden. Das erkannten auch Leute, die professionell damit zu tun hatten, die Welt besser zu machen: 1934 votierten die Mitglieder des Völkerbunds dafür, Mickey, diesen friedlichen Kosmopoliten, aufzunehmen.
Dabei war Mickey selbst gar nicht lustig, er war süß.