Plötzlich ohnmächtig
Aufstehen und gehen – was einfach klingt, ist für Tausende Österreicher kaum machbar. Sobald sie sich aufrichten, wird ihnen schwindelig, schwarz vor den Augen, sie zittern oder werden bewusstlos. Der Grund: die Kreislaufstörung POTS.
Es kam von einem Tag auf den anderen: „Auf meiner Laufrunde wurde mir schwindelig, alles um mich herum wurde unscharf, Übelkeit stieg hoch, ich musste mich übergeben. Dann plötzlich sah ich nur noch schwarz – und brach zusammen.“Wie lang Kerstin bewusstlos war, weiß sie nicht mehr. Auch nicht, wie viel Zeit verstrich, bis sie sich aufrappeln konnte, um sich nach Hause zu schleppen. „Ich fühlte mich so schwach“, erinnert sich die 24-Jährige nur noch. Sie schob es darauf, dass sie vor dem Laufen zu wenig getrunken hatte. Auf den heißen Juli. Doch sie irrte sich. Der Grund ihres Kollapses war, dass sie Sport getrieben hatte, obgleich sie an einer Grippe erkrankt war: „Das war der Auslöser für POTS.“
Hinter den vier Buchstaben verbirgt sich das posturale orthostatische Tachykardiesyndrom, eine Kreislaufstörung, an der rund 20.000 Österreicher leiden. Bemerkt wird POTS meist zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr, wobei Frauen weit häufiger betroffen sind als Männer. So zumindest die offiziellen Zahlen. „Die Dunkelziffer ist extrem hoch“, sagt Gregor Wenning, Vorstand der Abteilung für klinische Neurobiologie an der Universitätsklinik in Innsbruck. „Das liegt zum einen daran, dass die Patienten die Symptome als harmlosen Schwindel abtun, zum anderen erkennen die meisten Ärzte schlichtweg nicht, worum es sich wirklich handelt.“
Das liege daran, dass es sich bei POTS nicht um eine Krankheit, sondern um ein Syndrom handelt. „Es gibt keine spezifisch erkennbare Pathologie, stattdessen verschiedenste Beschwerden, die auftreten und den Blick auf das Wesentliche versperren können“, sagt Wenning. Die Folge: „Bis die Patienten Klarheit über ihren Zustand haben – sollte es dazu überhaupt kommen – haben sie meist eine Odyssee an Arztbesuchen hinter sich.“ Zahlreiche Fehldiagnosen. Was aber ist das Wesentliche? Ein Kennzeichen von POTS ist eine verminderte Kreislaufbelastung im Stehen oder Sitzen in Kombination mit Herzrasen. „Steht ein Betroffener aus dem Bett auf, schlägt das Herz schneller – und zwar um mindestens 30 Schläge binnen weniger Minuten“, erläutert Wenning. Bei Jugendlichen können es sogar um bis zu 40 Schläge mehr sein. „Aus einem Ruhepuls von 70 wird so binnen kürzester Zeit eine Frequenz von 110“, rechnet der Mediziner vor.
Dabei bleibt es nicht: Neben dem Herzrasen leiden die Patienten an Konzentrationsstörungen, fühlen sich matt und kraftlos, allen voran in den Beinen. Hinzu kommt ein starker Schwindel, das Gefühl einer drohenden Ohnmacht steigt auf. In manchen Fällen werden die Betroffenen tatsächlich bewusstlos, können sie sich nicht rechtzeitig wieder in eine liegende Position retten. Schaffen sie es doch, so sind sie oft zittrig, blass und klagen über Schweißausbrüche. „Das Problem dabei ist“, so Wenning, „dass die Symptome nicht permanent da sind und nicht immer in derselben Kombination eintreten. Das macht das Erkennen von POTS so schwierig.“
Und schraubt die Zahl der Fehldiagnosen in die Höhe: „Da die Leute auch über Bauch-, Gelenk- und Magenschmerzen sowie Übelkeit klagen, man aber keine entsprechenden Werte messen kann, ergibt das nach außen hin oft den Eindruck, sie wären hypochondrisch. Noch schlimmer: Sie wer- den zum Psychiater geschickt, obwohl ihnen in Kopf und Seele nichts fehlt.“
„Das Schlimme ist, die meisten nehmen einen nicht ernst“, bestätigt Sabrina Rakic. Die Tirolerin leidet seit einem Jahr an häufigem Schwindelgefühl. „Meine Eltern meinten, das liege daran, dass ich zu wenig Wasser trinke und zu wenig Sport mache. Meine ständigen Unterleibs- und Rückenschmerzen ließen sich so aber nicht erklären.“Auch die Ärzte fanden keine Antwort, „sie rieten mir zu schwimmen und zum Ausdauertraining“. Der Schwindel aber blieb – und verschlimmerte sich mit der Familiengründung. „Meine Kinder sind ein, drei und sieben Jahre alt“, sagt Rakic. „Das heißt: Ständig etwas aufheben, ständig bücken, ständig schwindelig. Anfangs geht das halbwegs, man hält sich eben irgendwo fest, doch das Schwindelgefühl dauert immer länger an.“ Klarheit dank Kipptisch. Seit März hat Rakic Klarheit über ihren Zustand. „Das war ein Zufall“, wie sie einräumt. Sie hörte von Bekannten, dass die Innsbrucker Uniklinik zweimal wöchentlich zu einer „neuro-vegetativen Sprechstunde“lädt. Dabei werden Personen, die unter Kreislaufproblemen leiden, die Ursache aber nicht kennen, zum „Kipptischtest“gebeten. „Er ist die einzige Möglichkeit, POTS eindeutig festzustellen“, betont Wenning. Der Patient wird dazu unter permanenter Messung der Blutdruckwerte und des Herzschlages auf einen Tisch geschnallt – und dieser für etwa 20 Minuten um 60 Grad gekippt.
„Es gibt drei mögliche Ergebnisse“, sagt Wenning. Szenario eins wäre, dass die Herzfrequenz des Gekippten „überschießt“– ein Beleg für POTS. Szenario zwei bedeutet: Es kommt zu einer Synkope, der Patient wird also ohnmächtig, da Herzfrequenz und Blutdruck stark absinken. Szenario drei: Der Blutdruck sinkt sofort nach dem Kippen ab, die Patienten verspüren Schwindel und können gelegentlich synkopieren, also in Ohnmacht fallen. Letztere Form wird als orthostatische Hypotonie bezeichnet, sie tritt