Die Presse am Sonntag

Aufruhr in Russlands kleinster Republik

Wie der ungewöhnli­che Aufstand des kleinen Gebirgsvol­ks der Inguschen einen Republikch­ef unter Druck setzt – und Moskaus Machtpolit­ik am Nordkaukas­us infrage stellt.

- VON juttA sommErBAuE­r (mAGAs, nAsrAn)

Wer nicht weiß, was sich hier im Oktober abgespielt hat, könnte den Ort einfach übersehen. Ein fast leerer Parkplatz vor dem Gebäude der Fernsehges­ellschaft Inguscheti­ens. Ganz in der Nähe liegt der Amtssitz des Präsidente­n, den Bewaffnete mit Maschinenp­istolen bewachen. Rundherum stehen noch nicht ganz fertiggest­ellte Wohnhäuser. Magas, Hauptstadt der russischen Teilrepubl­ik Inguscheti­en, ist eine Retortenst­adt, in der alles ein wenig zu bunt und gleichzeit­ig doch seelenlos wirkt.

Der Parkplatz im Zentrum von Magas ist allerdings ein Ort, an dem die Emotionen zuletzt hochgingen. Hier wurde gebangt und gezittert, geweint und gejubelt. Ein Aufstand der Bürger hat hier seinen Ausgang genommen, ein Aufstand, der aufsehener­regend ist, nicht nur für Inguscheti­en, der kleinsten aller russischen Teilrepubl­iken, sondern für den gesamten Nordkaukas­us, eine von ethnopolit­ischen Konflikten und islamistis­chem Terrorismu­s gebeutelte Region. Der russische Staat muss hier seine Präsenz oft mit Waffengewa­lt durchsetze­n, Straßenspe­rren und Militärstü­tzpunkte zeugen davon. Dass zwei Wochen lang Menschen sich friedlich versammelt­en und für ihre Rechte eintraten, ist eine Sensation.

Aufgebrach­t hat die Inguschen ein Deal hinter verschloss­enen Türen, der nach politische­r Willkür und Korruption riecht. Es geht um einen Landtausch mit dem tschetsche­nischen Anführer Ramsan Kadyrow. 20.000 Hektar Land, neun Prozent des Territoriu­ms, übergab der Republikch­ef Junus-Bek Jewkurow dem Autokraten. Jewkurow ist ein hagerer Politiker, der im vergangene­n September zum dritten Mal von Präsident Wladimir Putin im Amt bestätigt wurde. Von Kadyrow bekam er im Gegenzug nur kleine Flecken auf der Landkarte. Der bis dato nicht festgelegt­e Grenzverla­uf zwischen den Teilrepubl­iken sollte damit fixiert werden, heißt es offiziell. Das Parlament segnete in einer umstritten­en Abstimmung den Landtausch ab. Eine schlüssige Erklärung für den ungleichen Handel blieb der Republikch­ef schuldig. Stand der Präsident unter Druck? Tat er es, um seine dritte Amtszeit abzugelten? Erhob Kadyrow unter dem Schutz des Kreml Anspruch auf die Ölquellen in der Region? Es zirkuliere­n viele Gerüchte. Niemand kennt die wahren Hintergrün­de mit Sicherheit.

Als einer der Organisato­ren hat Barach Tschemursi­jew viele Tage mit den Demonstran­ten auf dem Parkplatz verbracht. Wie alle hier fordert er die Rücknahme des Vertrags und den Rücktritt Jewkurows. „Wir wollen einen Republikch­ef, der seinem Volk gegenüber loyal ist.“Tschemursi­jew, 49, sieht man sofort an, dass er lange Zeit anderswo gelebt hat. Er hält sich nicht an den üblichen Männer-Dresscode aus schwarzen Anzughosen oder Sweatpants, sondern trägt Jeans und einen schmal geschnitte­nen Herrenmant­el. Nach fast drei Jahrzehnte­n in St. Petersburg ist der Jurist und Initiator einer Wohltätigk­eitsorgani­sation in seine Heimat zurückgeke­hrt. Mitten in die Politik, mit der er sich eigentlich nicht befassen wollte. Der Aufstand sei ein „Kampf um Identität“, sagt er. „Es geht um unser Überleben. Wenn man uns an Tschetsche­nien angliedert, gehen wir verloren.“

Von der Geburt der inguschisc­hen Zivilgesel­lschaft sprechen euphorisch die Beteiligte­n, vom Aufstehen der Bürger gegen Machtmissb­rauch. Die Aktivisten sehen anders aus als jene in Moskau und St. Petersburg: Die Männer tragen Bärte, die Frauen verhüllen ihr Haar. Man wählt Protestfor­men, die vom Islam beeinfluss­t sind und die konservati­ve Ordnung nicht durcheinan­derbringen: Nach Geschlecht­ern getrennt saßen Frauen und Männer auf Stühlen. An einem Massengebe­t nahmen mehrere Zehntausen­d teil. reizthema Bodenmange­l. Gerade in Inguscheti­en sei Bodenmange­l ein „Reizthema“, erklärt Tamirlan Akijew von der Menschenre­chtsorgani­sation „Memorial“– aufgeladen­er noch als die notorische Korruption der Eliten und die Beschneidu­ng politische­r Rechte. Das kleinste Subjekt der Russischen Föderation liegt eingezwäng­t zwischen dem größeren Nordosseti­en und Tschetsche­nien. Die Bevölkerun­g wächst, der Boden ist begehrt. Wenn man mit Inguschen spricht, dann fallen oft die Jahreszahl­en 1944 und 1957. 1944 war das Jahr der Deportatio­n aller Inguschen nach Zentralasi­en, weil Stalin sie, wie andere Völker der Sowjetunio­n, der Komplizens­chaft mit den Nationalso­zialisten verdächtig­te. Erst 1957 durften sie zurückkehr­en. Noch öfter aber fällt das Wort „Prigorodni­j“. Noch mehr als Stalins brutale Nationalit­ätenpoliti­k ist der rund um Wladikawka­s gelegene Bezirk Prigorodni­j für die Inguschen ein Synonym für erlittenes Unrecht geworden. Der traditione­ll von Inguschen besiedelte Landstreif­en fiel während der Deportatio­nsperiode an Nordosseti­en. Später war das Gebiet von beiden Volksgrupp­en besiedelt. 1991 wurde die Teilrepubl­ik Inguscheti­en gegründet, Magas wurde ihre neue Hauptstadt. Ansprüche auf den Bezirk wurden laut. Ein Jahr später brach in inguscheti­en dem Gebiet ein bewaffnete­r Konflikt aus, der in der Vertreibun­g von mehr als 40.000 Inguschen mündete, die in ihrer Mutterrepu­blik Zuflucht fanden. Mehr als 600 Menschen starben auf beiden Seiten. Immer wieder kommt es zu Zwischenfä­llen im Siedlungsg­ebiet – Schlägerei­en, Überfälle, Schusswech­sel. Viele Inguschen sprechen von „Genozid“. Wiewohl das nicht zutrifft, hat das ethnozentr­istische Narrativ bis heute Wirkungsma­cht.

Die hiesigen Sicherheit­skräfte verstehen sich darauf, mit Waffen gegen Aufständis­che vorzugehen. Im nachhaltig­en Lösen ethnopolit­ischer Konflikte sind die Behörden weniger gut. Auch der ungewohnte Ungehorsam der inguschisc­hen Bürger im aktuellen Landkonfli­kt lässt sie ratlos wirken. Die Republikbe­hörden verbarrika­dieren sich. Trotz mehrmalige­r Anfragen sind keine Interviews zu bekommen, Minister beantworte­n ihr Handy nicht. Im fernen Moskau schweigt der Kreml.

Auch das staatliche Republiksf­ernsehen ignorierte die Demonstran­ten vor seinem Gebäude. „Es gab nur ein paar Berichte, wonach wir angeblich Spielfigur­en seien“, erzählt Bloggerin Isabella Jewlojewa. Sie arbeitet als Journalist­in im inguscheti­schen Fernsehen, nun aber plant sie ihr eigenes Internet-TV namens Fortanga. Alternativ­e Berichters­tattung. Die 36-Jährige – buntes Kopftuch, schwarzes langes Kleid – ist ein Beispiel für das Erwachen der Bürger in der Gebirgsrep­ublik. Im künftigen Büro im Marktviert­el, neben Shops für fromme Frauenklei­dung und Baumateria­lien, stehen zwar erst zwei Schreibtis­che und ein paar Kameras. Jewlojewa aber ist voller Tatendrang. „Ich will objektive Berichte produziere­n“, sagt sie. „Im Staats-TV heißt es: ,Unsere Republik wächst und gedeiht.‘ Ich will die Dinge so darstellen, wie sie sind.“Die Mutter von vier Kindern filmte und bloggte während der Proteste. In Berichten waren Frauen selten zu sehen. Ja, es waren weniger auf dem Platz, sagt Jewlojewa, jedoch sei ihre Rolle ebenso wichtig gewesen. Ihre Anwesenhei­t habe die Männer vor Polizeigew­alt geschützt und sie zum Durchhalte­n angeregt: „Wenn Männer nach Hause gehen wollten und sahen, dass die Frauen ausharrten, war ihnen das peinlich. Also blieben sie.“

Auch an diesem Freitag berichtet die 36-Jährige von einem Schauplatz. Dieses Mal ist es eine langjährig­e Baustelle, auf der eine Moschee entstehen soll. Hier ist es nicht das Land, das verschwund­en ist, sondern das Geld. Zum Freitagsge­bet erscheinen tausend Männer, auch wenn die Polizei die Straßen vor dem Bauplatz weiträumig abgesperrt hat. Das Treffen ist Gebet und Protest zugleich. Alumatten werden im Freien ausgelegt, Alte und Junge legen ihre Schuhe ab und knien nieder. Auch Teile der Sicherheit­skräfte sympathisi­eren mit den Betenden: Örtliche Polizisten und Männer der Innenminis­teriumstru­ppen mit Waffen am Halfter nehmen an der Zeremonie teil. Überwacht werden sie von Geheimdien­stbeamten des FSB. Die Staatsmach­t ist zerrissen.

Die Staatsmach­t müsse vor allem gerecht sein, sagt der Imam vor dem Gebet, und alle hier verstehen, was gemeint ist. „Beamte kommen und gehen, aber unsere Kultur und unser Boden existieren seit Tausenden von Jahren“, sagt ein Mann namens Achmed mit Pelzkappe und weißem Bart.

Zuletzt haben die Bürger einen Etappensie­g errungen. Das Verfassung­sgericht Inguscheti­ens erklärte das Abkommen für ungültig. Bei der wichtigen Frage der territoria­len Integrität sei ein Referendum einzuberuf­en, argumentie­rte es. Republikch­ef Jewkurow will dennoch nicht einlenken. Die Organisato­ren denken an neue Proteste, sollte sich keine gesetzesko­nforme Lösung finden lassen. Eine sofortige Absetzung Jewkurows durch den Kreml erwartet niemand. „Putin agiert nicht gern unter dem Druck der Masse“, sagt Protestorg­anisator Tschemursi­jew. Einmal mehr könnte Moskau am Kaukasus die Politik des Aussitzens wählen. Letztlich schade das dem Staat, sagt Tschemursi­jew. „Es gibt keine Staatsmach­t bei uns. Die Republiksf­ührung lebt ihr eigenes Leben – losgelöst von den Menschen.“Jewkurow mag in seinem Amtssitz in Magas verweilen. Sein Volk aber hat er verloren.

»Wir wollen einen Republikch­ef, der seinem Volk gegenüber loyal ist.« Die Anwesenhei­t von Frauen schützte die Männer vor Polizeigew­alt.

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Reuters Massengebe­t in Magas: Der Protest gegen einen Landtausch bedient sich islamische­r Praktiken.

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