Die Presse am Sonntag

»Ich sah das Beste und die Bestie im Menschen«

Der legendäre Rabbiner Schneier erzählt, wie er als achtjährig­er Bub in Wien den Anschluss und das Novemberpo­grom erlebte, wie er in Budapest Adolf Eichmann traf und dem Holocaust-Tod nur um Haaresbrei­te entrann, und wie er in New York zum Rabbi-Diplomate

- VON CHRISTIAN ULTSCH

Sie waren acht Jahre alt, als Sie im November 1938 die Synagoge in ihrer Gasse, in der Leopoldsga­sse 29 im zweiten Wiener Bezirk, in Flammen aufgehen sahen. Was macht das mit einer Kinderseel­e? Arthur Schneier: Du vergisst es nie. Es fing nicht mit der Kristallna­cht an. Ich höre immer noch, wie Kanzler Schuschnig­g in seiner letzten Rede im Radio sagte: „Gott schütze Österreich.“Eine halbe Stunde später hingen die Nazi-Fahnen an den Häusern. Meine schöne Welt hat sich an einem Abend umgedreht. Ich hatte viele christlich­e Freunde. Über Nacht war ich ein Paria. Hatten Sie keinen einzigen Kontakt mehr? Nein. Ich musste bald wie alle jüdischen Kinder meine Volksschul­e verlassen. Für uns wurde eine eigene Schule eingericht­et. Ich musste dann zu Fuß von der Leopoldsga­sse in den ersten Bezirk. Ich hatte Angst vor der Hitlerjuge­nd. Deshalb schloss ich mich auf dem Schulweg stets Älteren an, damit niemand glaubte, ich gehe allein. Ich trug immer Lederhosen. Aber für Juden waren Lederhosen auf einmal verboten. In der Konditorei, im Park, im Kino waren Juden unerwünsch­t. Wir wurden ausgeschlo­ssen aus der Gesellscha­ft. Dann kam die Kristallna­cht. Können Sie sich erinnern? Ganz genau. Es gibt Ereignisse im Leben, die bleiben. Der Sohn unseres Hausmeiste­rs hieß Franz. Zu Weihnachte­n, Feiertagen kam er immer in unsere Wohnung, wir schenkten ihm Kleider, alles Mögliche. In der Reichskris­tallnacht führte er die SS zu jeder jüdischen Wohnung im Haus. Unseren Nachbarn, Herrn Nachtigall, schleppten sie gleich zur Rossauer Kaserne. Sie nahmen die Männer, nicht die Frauen. Auch Ihren Vater? Mein Vater ist schon 1936 mit 45 Jahren verstorben. Er hatte ein kleines Warenhaus in der Nussdorfer Straße, ein Ratengesch­äft: Polizisten und Staatsbedi­enstete konnten einkaufen, ohne gleich alles bezahlen zu müssen. Sahen Sie die Juden vor der Kaserne? Ich sah dort Tausende. Zum ersten Mal hörte ich die Namen Dachau und Buchenwald. Viele sind nicht mehr zurückgeke­hrt. Ihre Familien mussten zahlen, um die Überreste zurückzube­kommen. Ich war auch vor der brennenden Synagoge. Die Feuerwehrm­änner und Polizisten sahen zu. Sie waren nur interessie­rt, dass die Nebengebäu­de nicht zerstört werden. Können Sie sich an irgendeine Form der Zuwendung eines nicht-jüdischen Nachbarn in dieser Situation erinnern, an ein Wort des Mitleids oder des Bedauerns? (Denkt lang nach). Eigentlich nein. Aber ich bin sicher, es gab auch Menschen, die gegen diese Unmenschli­chkeit und Brutalität waren. Ich bin mit meinem Leben davongekom­men, weil ein Schweizer Konsul in Budapest, Carl Lutz, seine diplomatis­che Karriere riskierte, um Juden zu retten. Ihre Mutter und Sie wollten schon 1938/39 in die USA. Warum hat das nicht geklappt? Ich bin in Wien geboren, meine Mutter in Rumänien. Sie hätte 15 Jahre auf ein US-Visum warten müssen. Ich sandte Präsident Roosevelt einen Brief, damit er meiner Mutter ein Visum gibt. Auf Deutsch, ich habe den Brief mehrmals geschriebe­n, damit er auch schön wird. Haben Sie eine Antwort erhalten? Nein. Shanghai wäre eine Möglichkei­t gewesen. Doch die Warteliste der Schiffgese­llschaft war lang. Man konnte

1930

Arthur Schneier wird am 20. März in Wien geboren.

1939

Schneier flüchtet mit seiner Mutter vor den Nazis zu seinen Großeltern nach Ungarn. Er überlebt den Holocaust in Budapest.

1947

Nach seiner Matura in Wien wandert Schneier in die USA aus.

1962

Er wird Oberhaupt der Synagoge Park East in New York, der er bis heute vorsteht. Drei Jahre später gründet er die Stiftung „Appeal of Conscience“. Schneier setzt sich seither weltweit für Religionsf­reiheit, Toleranz und Frieden ein. Am vergangene­n Freitag, am 80. Jahrestag des Novemberpo­groms, hielt Rabbi Schneier in Wien eine Rede vor dem Parlament. Er spricht immer noch fließend Deutsch – mit Wiener US-Akzent. nirgendwo hin. Überall herrschte Arbeitslos­igkeit. Auf der E´vian-Konferenz erklärten sich die Staaten bereit, nur ein paar Tausend Juden aufzunehme­n. Am 1. September 1939 sind wir mit einem Touristenv­isum zu meinen Großeltern nach Ungarn geflüchtet. Am Tag, als der Weltkrieg ausbrach. Wir hofften, von Budapest in die USA weiterzure­isen. Aber wir blieben stecken. Mein Großvater war ja mein zweiter Vater. Er war ein berühmter Oberrabbin­er in den Karpaten. 1944 wurden er und meine Großmutter nach Auschwitz deportiert. Sie haben in Budapest überlebt. Ja, aber es war kein leichtes Leben als Illegaler. Meine Mutter und ich haben uns in verschiede­nen Wohnungen versteckt. Zwischen April und Ende Juni 1944 wurden 430.000 Juden aus Ungarn nach Auschwitz deportiert, auch aus Neupest und Kleinpest. Am 6. Juli hätte die Deportatio­n aus Budapest beginnen sollen. Auf Druck des schwedisch­en Königs, des Papsts und Roosevelts stoppte Reichsverw­eser Horthy die Deportatio­nen. Am schlimmste­n war die Szalasi-´Zeit der Pfeilkreuz­ler nach Horthys Sturz im Oktober 1944. Der Schweizer Konsul Carl Lutz, der schwedisch­e Diplomat Raoul Wallenberg und der apostolisc­he Nuntius, Angelo Rota, rangen dem Regime Schutzhäus­er ab. Meine Mutter und ich erhielten einen Schweizer Schutzpass. Wir überlebten in einem Schutzhaus. Aber auch dort war man nicht sicher. Die Fratzen holten Juden aus den Häusern und schmissen sie in die Donau. Wie nahe waren Sie dem Tod? Ende Oktober 1944 war ich für einen Todesmarsc­h von Budapest nach Hegyeshalo­m an die österreich­ische Grenze ausgewählt. Mein US-Affidavit in den Farben Rosa, Blau, Gelb und Weiß rettete mich. Ich zeigte dem jungen Kerl, der mich verhaftet hatte, das Papier und sagte, ich bin Amerikaner. Er ließ mich laufen. Am 17. Oktober 1944 saß ich schon zum Abtranspor­t bereit auf dem Ostbahnhof. Ich hatte nur drei Zuckerwürf­el in der Tasche, teilte sie mir ein, einen halben am Morgen, einen halben am Abend. Nach drei Tagen kamen wir auf Druck Schwedens frei. Danach begann die Zeit im Ghetto. Aber das ist Vergangenh­eit. Ich habe einen Deal mit Gott gemacht. Welchen Deal? Ich war um nichts besser als die eineinhalb Millionen Kinder, die umkamen. Sie waren die ersten, die KZ-Arzt Mengele in Auschwitz aussortier­te. Sie hatten keine Chance. Gott muss mich für einen Zweck gerettet haben. Ich zahle jeden Tag zurück, um zu helfen, dass andere nicht erleiden, was ich erlitt. 1946 kehrten Sie zunächst wieder nach Österreich zurück. Sie waren der einzige jüdische Schüler im Gymnasium. Was empfanden Sie gegenüber den Österreich­ern? Nach meiner Erfahrung in der Volksschul­e 1938 engagierte ich mich nicht in sozialen Aktivitäte­n. Ich habe mich auf das Lernen konzentrie­rt. Ich wollte nicht wieder verletzt werden. Sie müssen sich einsam gefühlt haben? Ja. Deshalb beschloss ich, nach Amerika zu gehen. Warum sind Sie Rabbiner geworden? Gute Frage. Mein Großvater hatte nur eine Tochter und wollte immer einen Nachfolger als Rabbiner. Ihm zu Ehren fasste ich den Entschluss, die Rabbinerau­sbildung zu machen. Praktizier­en wollte ich nicht. Ich wollte Psychiater werden und studierte das Fach auch parallel. Dann sagte der Präsident der Yeshiva-Universitä­t: Du willst Psychiater werden? Du willst nur 30 Patienten haben? Du kannst mehr. Du bist eine begabte Führungspe­rson. Seit Kreisky besuchen Sie alle Kanzler in New York. Fiel es Ihnen schwer, wieder Beziehunge­n zu Österreich aufzubauen? Ich war auf die Sowjetunio­n und Osteuropa fokussiert. Bevor wir hinter den Eisernen Vorhang fuhren, sprachen wir im Vatikan stets mit Bischof Casaroli. Er war für Ostpolitik zuständig und daran beteiligt, Kardinal Mindszenth­y 1971 aus Ungarn herauszuho­len und nach Wien zu bringen. So traf ich Kardinal König, es entstand eine Freundscha­ft. Wann trafen Sie Kreisky zum ersten Mal? In New York nach diesem schrecklic­hen Auftritt von PLO-Chef Jassir Arafat mit der Pistole in der UN-Generalver­sammlung. Kreisky hatte einen Deal mit ihm. Arafat versprach, keine Juden zu attackiere­n, die aus Russland über Wien emigrierte­n. Im Gegenzug unterstütz­te ihn Kreisky. Schauen Sie, (zeigt einen Katalog seiner Stiftung „Appeal of Conscience“; Anm,), ich habe alle gekannt, von Reagan bis Trump. Wie knüpften Sie als Wiener Rabbi in New York Kontakte zu höchsten Kreisen? Es fing 1965 an mit einer Demonstrat­ion für Religionsf­reiheit vor der UN-Vertretung der Sowjetunio­n. Der „Appeal of Conscience“war so ein großer Erfolg, dass diese Koalition aus Juden, Katholiken, Protestant­en und Orthodoxen in der Sowjetunio­n aktiv wurde, in Osteuropa, in China. Ich hatte mit Ceausescu zu tun, mit Kadar, Gorbatscho­w, Jiang Zemin, Tudjman, Miloseviˇc.´ Sie nannten mich den Rabbi-Diplomaten, Wie haben Sie Zugang zu diesen teilweise brutalen Diktatoren gefunden? Mit Miloseviˇc´ (Serbiens Ex-Machthaber; Anm.) baute ich eine Beziehung auf, als er über den Selbstmord seiner Eltern erzählte. Er sorgte sich auch um seinen Sohn, der mit Rennautos fuhr. Was erreichten Sie bei Miloˇsevi´c? Als er nach Dayton kam, rief mich USBotschaf­ter und Bosnien-Vermittler Richard Holbrooke an. Er sagte: Ich hasse es, dich um zehn Uhr nachts anzurufen, aber wir machen keinen Fortschrit­t, weil Miloseviˇc´ das Abkommen nicht unterschre­iben will, solange der Patriarch nicht seine Zustimmung erteilt. Ich rief also Patriarch Pavle an und fragte, ob er ein Inserat des „Appeal of Conscience“in der „New York Times“für Frieden in Bosnien mitunterze­ichne. Er stimmte zu. Das gab Miloseviˇc´ Rückenstär­kung fürs Dayton-Abkommen. Aber meine Erfahrung ist: Jeder Tyrann meint, was er sagt. Was heißt das für die Gegenwart? Ob Hitler oder Stalin. Sie meinen, was sie sagen. Wenn Irans Führer Khamenei sagt, er werde den zionistisc­hen Staat zerstören, dann meint er es. Ist es Zeitversch­wendung mit dem iranischen Regime zu reden? Schließe nie die Tür. Wenn sie einmal zu ist, ist es schwer, sie wieder zu öffnen. Sie haben als Kind Eichmann, den Organisato­r des Holocaust, in Budapest getroffen . . . Ich brachte ihm vom Judenrat eine Liste jüdischer Häuser, die evakuiert werden mussten wegen Bombardier­ungen. Erkennen Sie das Böse in einem Menschen? Das ist schwer. Familienvä­ter schickten in Auschwitz Juden ins Gas und spielten am Abend Mozart. Ich sah das Beste und die Bestie im Menschen.

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Fotonovo.at, Daniel Novotny Rabbiner Arthur Schneier (88) beim Interview im Hotel Sacher in Wien.
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