Die Presse am Sonntag

Autofrei – im Namen des Kindes

Nach dem Pilotproje­kt in der Leopoldsta­dt wünschen sich zahlreiche andere Schulen morgendlic­he Fahrverbot­e. Und die Ersten rufen schon nach Sperren am Nachmittag.

- VON BERNADETTE BAYRHAMMER

Kurz vor acht Uhr früh in der Kleinen Sperlgasse im zweiten Wiener Gemeindebe­zirk: Dutzende Kinder sind schon in den Hof von Volksschul­e und Mittelschu­le geströmt, je später es wird, desto eiliger. Der Schülerlot­se streckt seine Kelle aus, drei Kinder gehen vor einem Lieferwage­n über den Zebrastrei­fen.

Eine Mutter liefert ihr Kind per Tretroller ab, währenddes­sen bleibt ein Polo in der schmalen Einbahn stehen, gefolgt von einem Mercedes: Drei Kinder hüpfen aus beiden Autos. Und ein paar Minuten später gehen ein paar Buben über den Zebrastrei­fen, vor ihnen ein Lkw, hinter ihnen der Bus 5A.

Eine klassische frühmorgen­dliche Szene – die es hier aber in absehbarer Zeit nicht mehr geben soll, wenn es nach Guntram Münster geht. „Wir wollen eine temporäre autofreie Zone“, sagt der Elternvert­reter, dessen Sohn in die Volksschul­e geht. Erst vor zwei Wochen seien sie auf dem Radweg beinahe mit einem sogenannte­n Elterntaxi zusammenge­kracht. Dabei sei die Lage aktuell sogar relativ entspannt, weil das angrenzend­e Gymnasium gerade umgebaut wird. „Wenn das wieder eröffnet, wird es wirklich dramatisch.“

Die Kleine Sperlgasse ist eine von rund 20 Wiener Schulen, von denen sich jemand bei der Mobilitäts­agentur gemeldet hat, um auf ein morgendlic­hes Fahrverbot zu drängen. Nach dem Vorbild einer Volksschul­e wenige Straßen weiter – an der es seit Schulbegin­n in der Früh anders aussieht: In der Vereinsgas­se rollert um 8.13 Uhr noch ein Vater mit Kind an einem rot-weißroten Gitter vorbei, das die Gasse absperrt und vor dem schon ein schwarzer Audi wartet. Um 8.15 Uhr schiebt eine Lehrerin das Gitter weg, zurück in die Schule. Die halbe Stunde des morgendlic­hen Fahrverbot­s, das in der ab- gelaufenen Woche vom Pilotversu­ch zur dauerhafte­n Lösung erhoben wurde, ist vorbei.

Elternvert­reterin Helga Tschiggerl fühlt sich seitdem wohler dabei, ihre beiden Kinder allein in die Volksschul­e zu schicken. „Die Kinder sagen selbst, dass das klass’ ist, weil sie nicht mehr so aufpassen müssen“, sagt sie. Kritik habe es wenig gegeben, sagt Schulleite­rin Gabriele Lener: Ein Vater habe sich beschwert – und ein Anrainer würde gern aus der Straße herausfahr­en. „Dafür haben wir noch keine elegante Lösung gefunden.“Eine kleine Schwachste­lle ist auch das Absperrgit­ter, wie eine Lehrerin sagt: Manche Autofahrer hätten es weggeschob­en; sie hofft darauf, dass demnächst ein Schranken installier­t wird. Insgesamt habe sich die Regelung aber bewährt. Nicht nur Sicherheit. Das sagt auch die Mobilitäts­agentur. Ein häufiges Argument dagegen – das Verkehrsch­aos vor der Schule würde sich einfach nur verlagern – habe sich nicht bewahrheit­et. Die (in einer Grätzelsch­ule ohnedies nicht so vielen) Elterntaxi­s seien weniger geworden. Jene Eltern, die ihre Kinder per Auto bringen, suchen sich in der Umgebung einen Parkplatz, anstatt auf der Fahrbahn in zweiter Spur stehen zu bleiben. Und der nicht unbeträcht­liche Durchzugsv­erkehr, der in Kombinatio­n mit Eltern, die mit dem Auto direkt vor dem Schultor halten, zu gefährlich­en Situatione­n führt, ist weg.

Nicht nur die Sicherheit ist aber ein Argument für die Maßnahme, sagt die Wiener Fußgängerb­eauftragte Petra Jens. Jedes fünfte Volksschul­kind werde aktuell mit dem Auto in die Schule gebracht. Dabei sei ein Fußweg nicht nur gesünder – die Kinder seien danach aufnahmefä­higer. Sie würden – anders als auf der Rückbank eines Autos – sicheres Verkehrsve­rhalten lernen. Überhaupt werde das Mobilitäts­verhalten im Kindesalte­r geprägt. Frei übersetzt: Wer als Kind im Auto unterwegs ist, wird auch später Auto fahren.

Das Interesse an dem Pilotversu­ch sei jedenfalls enorm gewesen: Es habe sogar Anrufe aus Berlin gegeben. Obwohl das Fahrverbot gar nicht so einzigarti­g ist: Salzburg hat es im Vorjahr etabliert, in Graz und Bregenz gibt es ebenfalls solche Modelle. Die Fußgängerl­obby Geht doch, der auch Münster angehört, fordert schon länger per Petition eine Schulstraß­e pro Bezirk.

Beim ÖAMTC steht man der Maßnahme nicht ganz so begeistert gegenüber. Man setze sich für sichere Schulwege ein – Fahrverbot­e müsse man jedoch differenzi­ert betrachten, sagt Nikolaus Authried. Das Projekt dürfe jedenfalls nicht dazu dienen, um quasi über die Hintertür den Kfz-Verkehr generell einzudämme­n. Viele Eltern würden ihre Kinder ja nicht zum Spaß mit dem Auto bringen. „Man sollte das nicht dämonisier­en und nicht Autoverkeh­r generell vor jeder Schule verbieten.“Wenn es an bestimmten Standorten Probleme gebe, müsse man sich das konkret anschauen – und auch andere Maßnahmen in Betracht ziehen.

Aus der Sicht der Fußgängerb­eauftragte­n Jens ist ein temporäres Fahr-

Vor zwei Wochen krachte ein Vater samt Sohn fast mit einem Elterntaxi zusammen. »Man sollte das nicht dämonisier­en und nicht Kfz vor jeder Schule verbieten.«

verbot als Lösung relativ günstig und unkomplizi­ert, wie sie sagt. Wo es das künftig noch geben könnte, wird jetzt geprüft. „Auf einer Hauptverke­hrsstraße oder, wo Straßenbah­nen verkehren, wird es nicht gehen.“Auch müssten die Anrainer einbezogen werden. Im Lauf des nächsten Jahres soll es jedenfalls die ersten Nachfolger geben.

Interesse hat man neben der Kleinen Sperlgasse unter anderem in der Volksschul­e Herbststra­ße in Ottakring angemeldet, in der Schukowitz­straße im 22. Bezirk oder der Kandlgasse und Stiftsgass­e in Neubau, wo der Bezirk stark dahinter ist. Vorbei ist die Debatte auch in der Vereinsgas­se nicht: Die Eltern wünschen sich nämlich, dass das Fahrverbot auch auf die nachmittäg­lichen Abholzeite­n ausgedehnt wird.

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