Die entzweiten (Doppel-)Staatsbürger
Urteile und Gegenbeweise: Eine türkische Wählerevidenzliste sorgt für Unruhe unter echten und vermeintlichen Doppelstaatsbürgern. Denn ihnen droht die Staatenlosigkeit.
Es war Mitte der 1990er-Jahre, als Frau F., damals in ihren Zwanzigern und gerade Mutter geworden, ihre türkische Staatsbürgerschaft zurücklegte. „Ich bin hingegangen und habe gesagt: In der Türkei bin ich nur im Urlaub.“Seither ist Frau F. Österreicherin. Sie betreibt ein kleines Lokal in Wien, wo sie kocht und bäckt und auch Bestellungen für größere Feiern entgegennimmt. Sie ist Mitglied der Wirtschaftskammer, war im Elternverein der Schule ihrer Kinder aktiv und ist nun Teil einer Frühstücksrunde, die sie und ein paar andere türkeistämmige Frauen irgendwann, sie kann sich nicht mehr genau an den Zeitpunkt erinnern, ins Leben gerufen haben.
An den Brief der Stadt Wien aber erinnert sich Frau F. genau: Es bestehe der Verdacht, dass sie Doppelstaatsbürgerin sei. „Ich war schockiert. Ich hatte mit dem türkischen Konsulat 20 Jahre lang keinen Kontakt.“An vielen Tagen ist das Thema Doppelstaatsbürgerschaft Causa prima im Geschäft von Frau F., aber nicht nur hier: Seit vergangenem Jahr, seit eine ominöse Liste die Runde machte, ist die Unsicherheit in der Community groß. Wer steht auf der Liste? Woher kommt die Liste? Und: Ist sie überhaupt vertrauenswürdig? Frau F. sagt, sie habe den Behörden nachweisen können, dass sie keine Doppelstaatsbürgerin ist. „Warum taucht da mein Name auf?“
Die Liste scheint eine Wählerevidenzliste zu sein. Seit türkische Staats- bürger auch im Ausland wählen dürfen – erstmals bei der Präsidentenwahl im Jahr 2014 –, gehen türkische Parteien auch im Ausland auf Stimmenfang. Sie haben Zugriff auf die Daten der Obersten Wahlbehörde in Ankara: Mittels dieser Listen gehen die Parteien Klinken putzen – und über sie dürften die Namen schließlich auch in Österreich gelandet sein. Hier machten sie die Runde, von Peter Pilz bis hin zur FPÖ. „Wir werden mit den Listen sicher nicht hinterm Berg halten“, sagte Parteichef Heinz-Christian Strache im Frühjahr 2017.
Wegen des Verdachts auf „illegale Doppelstaatsbürgerschaft“übergab die Partei das Verzeichnis an das Innenministerium, das wiederum reichte sie an die für Staatsbürgerschaften zuständi- gen Bundesländer weiter. Von 95.000 erfassten Personen „ergaben sich circa 30.000 Verdachtsfälle“, heißt es von der FPÖ heute: „Die Behörden prüfen derzeit sorgfältig in aufwendigen Verfahren jeden Einzellfall genau.“ Glaubwürdige Beweise. Ein erstes höchstgerichtliches Urteil fiel vergangenen Monat. Der Verwaltungsgerichtshof entschied, dass ein Mann aus Salzburg die österreichische Staatsbürgerschaft verliert, da er nicht glaubwürdig seinen Austritt aus dem türkischen Staatsverband darlegen konnte. Verfahren sind auch in anderen Bundesländern ausständig, zudem beschäftigt sich der Verfassungsgerichtshof derzeit mit mindestens vier Beschwerden. Das Urteil im Salzburger Fall hatte jeden- falls zur Folge, dass die Liste als Beweis gehandelt wird. Andererseits konnte jüngst eine 31-jährige Salzburgerin, deren Name ebenfalls im Verzeichnis erschien, den Behörden gegenüber beweisen, dass sie seit 2003 keine türkische Staatsbürgerin mehr ist.
Die Rechtslage ist jedenfalls klar: Wer die österreichische Staatsbürgerschaft annimmt, muss die ursprüngliche zurücklegen – wenige Ausnahmen gibt es. Dass es sehr wohl illegale Doppelstaatsbürgerschaften innerhalb der Community gibt, dürfte auch weitläufig bekannt sein. Die türkischen Behörden geben keine Daten heraus, daher wähnten sich die Betroffenen in relativer Sicherheit. Die ehemalige grüne Abgeordnete Berˆıvan Aslan, die
»Die Behörden prüfen derzeit sorgfältig jeden Einzelfall genau.«