Geld oder Streik
Die kollektive Arbeitsniederlegung ist seit jeher das wichtigste Druckmittel von Gewerkschaften. Doch welche Auswirkungen haben Streiks auf das Lohnniveau wirklich?
Heute, Sonntag, um elf Uhr werden die Verhandlungsführer von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite zu ihren sechsten Verhandlungen im Rahmen der diesjährigen „Metaller-Lohnrunde“zusammentreffen. Auch wenn nach dem 15-stündigen Verhandlungsmarathon in der Nacht auf Freitag allgemein von einer Annäherung gesprochen wurde, ist eine Einigung alles andere als fix. Den heutigen Verhandlungen kommt also Brisanz zu – schließlich ist es das letzte Zusammentreffen, bevor es in Österreich wieder einmal zu größeren Streiks kommen könnte. Schon im Vorfeld haben die Gewerkschafter angekündigt, dass ab Montag ganze Schichten ausfallen könnten, wenn es keinen Abschluss gibt.
Für Österreich sind solche Streiks trotz der oftmals kampfeslustigen Rhetorik bei den Verhandlungen nach wie vor ungewöhnlich. Im Europa-Vergleich liegt die Republik zusammen mit der Schweiz an der Spitze der streikunfreudigsten Länder, wie eine Studie des deutschen IW Köln zeigt. Demnach be- trägt der streikbedingte Ausfall im langjährigen Jahresdurchschnitt je 1000 Beschäftigen nur zwei Arbeitstage. Zum Vergleich: Frankreich wird in dieser Statistik seinem Ruf als Streiknation mit 123 Tagen gerecht. Und auch die Deutschen legen mit 20 Tagen ihre Arbeit deutlich öfter nieder.
Doch was bedeutet die Streikfreudigkeit eigentlich für das Lohnniveau? Ist die Zurückhaltung der österreichischen Arbeitnehmer schlecht für ihr Geldbörserl? Oder reicht die hierzulande in den meisten Branchen verpflichtende kollektive Lohnverhandlung bereits aus, um – aus Sicht der Arbeitnehmer – ordentliche Lohnabschlüsse zu erzielen? Die Antwort auf diese Fragen ist nicht einfach, da es nur wenig Studien dazu gibt. Grund dafür ist, dass es vielfach am Vergleich fehlt. Um beurteilen zu können, wie stark sich Streiks auf Lohnsteigerungen auswirken, braucht es auch das Wissen, wie die Situation ohne Streiks ausgesehen hätte. Lehrer als Messobjekt. Eine teilweise Antwort bringt eine Studie der USÖkonomin Agustina Paglayan. Sie hat sich die Entwicklung der Lehrergehälter in den US-Bundesstaaten seit den 1960er-Jahren angesehen. Damals wurde in vielen Bundesstaaten das Verbot kollektiver Lohnverhandlungen für staatliche Angestellte abgeschafft. Allerdings wurde im Abtausch für die von Gewerkschaften geforderten kollektiven Verhandlungen in einigen Bundesstaaten das Streiken erschwert. So wurden beispielsweise die Kosten erhöht, indem für jeden Streiktag der Lohn für zwei Arbeitstage ausfällt.
Anhand der Ausgabenentwicklung für die Lehrergehälter konnte die Ökonomin nun drei unterschiedliche Gruppen über mehrere Jahrzehnte vergleichen. Dabei zeigte sich, dass die Lohnsteigerungen für Lehrer in Staaten mit einem Verbot von kollektiven Lohnverhandlungen am geringsten ausfielen. Ebenso niedrig waren allerdings auch die Steigerungen in jenen Bundesstaaten, die zwar kollektive Verhandlungen zuließen, aber das Streiken für die Arbeitnehmer teurer machten. „Anders als die übliche Annahme lautet, bringen kollektive Lohnverhandlungen nicht automatisch höhere Abschlüsse“, schreibt Paglayan.
Eine spürbare Abweichung nach oben gab es nur dort, wo sowohl kollektiv verhandelt als auch die Möglichkeit zu streiken nicht eingeschränkt wurde. Ob in diesen Staaten nun auch wirklich öfter gestreikt wurde oder ob bereits die Drohung ausreichte, beantwortet die Studie jedoch nicht.
Den Zusammenhang zwischen Streikfreudigkeit und Lohnentwicklung haben sich Ökonomen in jüngster Vergangenheit auch in Deutschland angesehen. Grund dafür war das Entstehen von sogenannten Berufsgewerkschaften, die nicht mehr eine Branche, sondern nur mehr spezifische Berufe wie
Arbeitstage
je 1000 Beschäftigen gehen in Österreich im langjährigen Durchschnitt durch Streiks verloren. In Frankreich sind es 123, in Deutschland 20.
Menschen
beteiligten sich im Schnitt zwischen 2010 und 2014 (jüngere Zahlen sind nicht verfügbar) in Österreich an Streiks. Das ist im internationalen Vergleich ein eher hoher Wert, Deutschland liegt hierbei bei 64. Wenn hierzulande gestreikt wird, dann also auf breiter Basis. Lokführer oder Piloten vertreten. Diese zeichnen sich in der Regel dadurch aus, dass ihre Streiks eine besonders hohe Schadenswirkung entfalten können. Für die restliche Gesellschaft mag das ärgerlich sein, für die Gewerkschaftsmitglieder bringt es aber Vorteile. So heißt es in einer Studie des Leipziger Soziologieprofessors Matthias Dütsch: „Insgesamt konnten die von Berufsgewerkschaften vertretenen Beschäftigten stattliche Gehaltszuwächse realisieren, während die durch Branchengewerkschaften verhandelten Lohnsteigerungen moderater ausfielen.“
Entscheidend für die Wirksamkeit eines Streiks sind also die Kosten, die er verursacht. Und hier hängen die Berechnungen in jedem Einzelfall von vielen Variablen ab. Für die direkt betroffenen Unternehmen kann es dabei schnell um hohe Beträge gehen, die etwa Produktionsausfälle verursachen. Volkswirtschaftlich würden die Kosten allerdings meist überschätzt, heißt es dazu in einer Untersuchung des emeritierten Professors für Soziologie an der Universität Koblenz, Berndt Keller. „Arbeitskämpfe bewirken keine messbaren allgemeinen Wohlstandsverluste.“
In spezifischen Bereichen können die Kosten jedoch auf den ersten Blick kaum sichtbar und langfristig teuer sein. So haben sich argentinische Ökonomen die Lohnentwicklung von Schülern in deren späteren Berufsleben angesehen, die in ihrer Schulzeit von massiven Lehrerstreiks betroffen waren. Das Ergebnis: Zwischen 30 und 40 verdienten sie im Schnitt um drei Prozent weniger als Jahrgänge, die geringer von Lehrerstreiks betroffen waren. In Summe würde das die argentinische Volkswirtschaft rund 700 Mio. Dollar kosten. Ein Betrag, mit dem die Gehälter der Lehrer um fast 20 Prozent angehoben werden könnten.
Sollten die heimischen Metaller ab morgen ganze Schichten bestreiken, werden die langfristigen Kosten für die heimische Volkswirtschaft zwar nicht so hoch sein. Dennoch werden sie darüber entscheiden, ob bereits die Drohung mit einem Streik zu einer Einigung mit den Arbeitgebern führt.
In Europa liegt Österreich an der Spitze der am wenigsten streikfreudigen Länder.