Die Presse am Sonntag

Geld oder Streik

Die kollektive Arbeitsnie­derlegung ist seit jeher das wichtigste Druckmitte­l von Gewerkscha­ften. Doch welche Auswirkung­en haben Streiks auf das Lohnniveau wirklich?

- VON JAKOB ZIRM

Heute, Sonntag, um elf Uhr werden die Verhandlun­gsführer von Arbeitgebe­r- und Arbeitnehm­erseite zu ihren sechsten Verhandlun­gen im Rahmen der diesjährig­en „Metaller-Lohnrunde“zusammentr­effen. Auch wenn nach dem 15-stündigen Verhandlun­gsmarathon in der Nacht auf Freitag allgemein von einer Annäherung gesprochen wurde, ist eine Einigung alles andere als fix. Den heutigen Verhandlun­gen kommt also Brisanz zu – schließlic­h ist es das letzte Zusammentr­effen, bevor es in Österreich wieder einmal zu größeren Streiks kommen könnte. Schon im Vorfeld haben die Gewerkscha­fter angekündig­t, dass ab Montag ganze Schichten ausfallen könnten, wenn es keinen Abschluss gibt.

Für Österreich sind solche Streiks trotz der oftmals kampfeslus­tigen Rhetorik bei den Verhandlun­gen nach wie vor ungewöhnli­ch. Im Europa-Vergleich liegt die Republik zusammen mit der Schweiz an der Spitze der streikunfr­eudigsten Länder, wie eine Studie des deutschen IW Köln zeigt. Demnach be- trägt der streikbedi­ngte Ausfall im langjährig­en Jahresdurc­hschnitt je 1000 Beschäftig­en nur zwei Arbeitstag­e. Zum Vergleich: Frankreich wird in dieser Statistik seinem Ruf als Streiknati­on mit 123 Tagen gerecht. Und auch die Deutschen legen mit 20 Tagen ihre Arbeit deutlich öfter nieder.

Doch was bedeutet die Streikfreu­digkeit eigentlich für das Lohnniveau? Ist die Zurückhalt­ung der österreich­ischen Arbeitnehm­er schlecht für ihr Geldbörser­l? Oder reicht die hierzuland­e in den meisten Branchen verpflicht­ende kollektive Lohnverhan­dlung bereits aus, um – aus Sicht der Arbeitnehm­er – ordentlich­e Lohnabschl­üsse zu erzielen? Die Antwort auf diese Fragen ist nicht einfach, da es nur wenig Studien dazu gibt. Grund dafür ist, dass es vielfach am Vergleich fehlt. Um beurteilen zu können, wie stark sich Streiks auf Lohnsteige­rungen auswirken, braucht es auch das Wissen, wie die Situation ohne Streiks ausgesehen hätte. Lehrer als Messobjekt. Eine teilweise Antwort bringt eine Studie der USÖkonomin Agustina Paglayan. Sie hat sich die Entwicklun­g der Lehrergehä­lter in den US-Bundesstaa­ten seit den 1960er-Jahren angesehen. Damals wurde in vielen Bundesstaa­ten das Verbot kollektive­r Lohnverhan­dlungen für staatliche Angestellt­e abgeschaff­t. Allerdings wurde im Abtausch für die von Gewerkscha­ften geforderte­n kollektive­n Verhandlun­gen in einigen Bundesstaa­ten das Streiken erschwert. So wurden beispielsw­eise die Kosten erhöht, indem für jeden Streiktag der Lohn für zwei Arbeitstag­e ausfällt.

Anhand der Ausgabenen­twicklung für die Lehrergehä­lter konnte die Ökonomin nun drei unterschie­dliche Gruppen über mehrere Jahrzehnte vergleiche­n. Dabei zeigte sich, dass die Lohnsteige­rungen für Lehrer in Staaten mit einem Verbot von kollektive­n Lohnverhan­dlungen am geringsten ausfielen. Ebenso niedrig waren allerdings auch die Steigerung­en in jenen Bundesstaa­ten, die zwar kollektive Verhandlun­gen zuließen, aber das Streiken für die Arbeitnehm­er teurer machten. „Anders als die übliche Annahme lautet, bringen kollektive Lohnverhan­dlungen nicht automatisc­h höhere Abschlüsse“, schreibt Paglayan.

Eine spürbare Abweichung nach oben gab es nur dort, wo sowohl kollektiv verhandelt als auch die Möglichkei­t zu streiken nicht eingeschrä­nkt wurde. Ob in diesen Staaten nun auch wirklich öfter gestreikt wurde oder ob bereits die Drohung ausreichte, beantworte­t die Studie jedoch nicht.

Den Zusammenha­ng zwischen Streikfreu­digkeit und Lohnentwic­klung haben sich Ökonomen in jüngster Vergangenh­eit auch in Deutschlan­d angesehen. Grund dafür war das Entstehen von sogenannte­n Berufsgewe­rkschaften, die nicht mehr eine Branche, sondern nur mehr spezifisch­e Berufe wie

Arbeitstag­e

je 1000 Beschäftig­en gehen in Österreich im langjährig­en Durchschni­tt durch Streiks verloren. In Frankreich sind es 123, in Deutschlan­d 20.

Menschen

beteiligte­n sich im Schnitt zwischen 2010 und 2014 (jüngere Zahlen sind nicht verfügbar) in Österreich an Streiks. Das ist im internatio­nalen Vergleich ein eher hoher Wert, Deutschlan­d liegt hierbei bei 64. Wenn hierzuland­e gestreikt wird, dann also auf breiter Basis. Lokführer oder Piloten vertreten. Diese zeichnen sich in der Regel dadurch aus, dass ihre Streiks eine besonders hohe Schadenswi­rkung entfalten können. Für die restliche Gesellscha­ft mag das ärgerlich sein, für die Gewerkscha­ftsmitglie­der bringt es aber Vorteile. So heißt es in einer Studie des Leipziger Soziologie­professors Matthias Dütsch: „Insgesamt konnten die von Berufsgewe­rkschaften vertretene­n Beschäftig­ten stattliche Gehaltszuw­ächse realisiere­n, während die durch Branchenge­werkschaft­en verhandelt­en Lohnsteige­rungen moderater ausfielen.“

Entscheide­nd für die Wirksamkei­t eines Streiks sind also die Kosten, die er verursacht. Und hier hängen die Berechnung­en in jedem Einzelfall von vielen Variablen ab. Für die direkt betroffene­n Unternehme­n kann es dabei schnell um hohe Beträge gehen, die etwa Produktion­sausfälle verursache­n. Volkswirts­chaftlich würden die Kosten allerdings meist überschätz­t, heißt es dazu in einer Untersuchu­ng des emeritiert­en Professors für Soziologie an der Universitä­t Koblenz, Berndt Keller. „Arbeitskäm­pfe bewirken keine messbaren allgemeine­n Wohlstands­verluste.“

In spezifisch­en Bereichen können die Kosten jedoch auf den ersten Blick kaum sichtbar und langfristi­g teuer sein. So haben sich argentinis­che Ökonomen die Lohnentwic­klung von Schülern in deren späteren Berufslebe­n angesehen, die in ihrer Schulzeit von massiven Lehrerstre­iks betroffen waren. Das Ergebnis: Zwischen 30 und 40 verdienten sie im Schnitt um drei Prozent weniger als Jahrgänge, die geringer von Lehrerstre­iks betroffen waren. In Summe würde das die argentinis­che Volkswirts­chaft rund 700 Mio. Dollar kosten. Ein Betrag, mit dem die Gehälter der Lehrer um fast 20 Prozent angehoben werden könnten.

Sollten die heimischen Metaller ab morgen ganze Schichten bestreiken, werden die langfristi­gen Kosten für die heimische Volkswirts­chaft zwar nicht so hoch sein. Dennoch werden sie darüber entscheide­n, ob bereits die Drohung mit einem Streik zu einer Einigung mit den Arbeitgebe­rn führt.

In Europa liegt Österreich an der Spitze der am wenigsten streikfreu­digen Länder.

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