Die Presse am Sonntag

Nehmen, nie geben: »Die Revolution hat längst begonnen«

Ein Jahr nach dem Kreuzbandr­iss peilte Felix Neureuther, 34, sein Comeback für Levi an – doch ein Daumenbruc­h sorgte für weiteres Ungemach. Der Deutsche redete sich den Frust über eine aus den Fugen geratene Welt von der Seele, prangerte an, dass Kommerz

- VON MANFRED BEHR

Im Hause Hirscher hat sich kürzlich Nachwuchs eingestell­t. Hätten Sie irgendwelc­he Ratschläge von Jungvater zu Jungvater? Felix Neureuther: Wir sind es als Athleten gewohnt, uns auf jedes Rennen individuel­l vorzuberei­ten. Und dann soll es ein Patentreze­pt geben, das für alle Babys Gültigkeit hat? So ein Schmarrn! Das Einzige, das ich ihm raten kann, ist, gesund zu bleiben. Ich habe mir 2017, ein Monat nach Matildas Geburt, das Kreuzband gerissen. Für meine Frau hat sich das angefühlt, als hätte sie Zwillinge bekommen. Hier das Baby, dort der Pflegefall. Um Marcel Hirschers Sohn herrscht eine regelrecht­e Nachrichte­nsperre. Wie gehen Sie und Ihre Familie mit dem Thema Öffentlich­keit um? Entspannt, bis zu dem Moment, wenn jemand ein Handy zückt und sich anschickt, Matilda zu fotografie­ren. Da kann ich zur Bestie werden. Weil der Schutz meiner Tochter über allem steht. Mit unseren Social-Media-Postings hingegen können die Boulevardm­edien tun, was sie wollen. Lustig fand ich, als ein buntes Magazin getitelt hat: „Die trauen sich was! Erster Urlaub ohne Baby Matilda.“Während wir mit der Kleinen auf Kreta saßen! Viele stellen sich die Frage, ob es verantwort­ungsbewuss­t ist, Kinder in eine Welt zu setzen, die zunehmend aus den Fugen zu geraten scheint. Mit Kind machst du dir unweigerli­ch Gedanken über die Zukunft. Und ich gebe zu, das stresst mich extrem. Die Frage, die ich mir stelle: Muss sich alles immer weiter gegenseiti­g aufschauke­ln, immer weiter, bis zum großen Knall, nach dem nichts mehr so sein wird, wie es einmal war? Ein Knall in welcher Hinsicht? Ein Krieg zum Beispiel, ausgelöst durch divergiere­nde wirtschaft­liche Interessen. Seit Donald Trump als Präsident in Amerika an der Macht ist, scheint das nicht mehr so weit hergeholt. Oder der Kollaps des Weltklimas.

Felix Neureuther

(*26. März 1984 in München) ist ein deutscher Skifahrer. Der Sohn von Rosi Mittermaie­r und Christian Neureuther ist Slalom- und RTL-Spezialist.

Beruf

Der Zöllner feierte 13 Weltcupsie­ge und gewann fünf WM-Medaillen. 2005 wurde er Team-Weltmeiste­r.

Privat

Er ist mit der Biathletin Miriam Gössner verheirate­t, sie haben eine Tochter. Man tritt das Thema Umwelt mit Füßen, obwohl uns die Konsequenz­en permanent vor Augen geführt werden. Sie kritisiere­n häufig das Internatio­nale Olympische Komitee oder andere Verbände dafür, vorrangig von Wirtschaft­sinteresse­n getrieben zu sein. Sind das nicht MikroPlaye­r auf dem weltweiten Jahrmarkt der Unanständi­gkeiten? Zweifellos. Aber sie sind ein gutes Spiegelbil­d der Politik, der Wirtschaft. Schneller, höher, immer größer. Es müssen immer mehr Autos gebaut werden, die Wirtschaft muss immer weiter wachsen. Jedes Land schaut nur auf sich, niemand hat den Blick für das große Ganze. Auch zwischen Sportfunkt­ionären und Politikern gibt es keine Unterschie­de. Selbstverl­iebte Menschen, denen es um die eigene Profilieru­ng geht. Was im Großen vorgelebt wird, findet üblicherwe­ise doch auch „Nachahmung­stäter“in der Gesellscha­ft . . . Na klar. Und diese egoistisch­e Haltung ist furchtbar und einfach wahnsinnig traurig mitanzuseh­en. Immer nur: ich, ich, ich! Immer nur nehmen, nie geben. Vielleicht muss der große Knall ja kommen, damit es die Menschheit checkt. Braucht es so etwas wie eine „Revolution von unten“? Die Revolution hat ja längst begonnen. Aber eine andere als die, die wir uns wünschen. Schauen wir doch, welche Politiker zuletzt an die Macht gekommen sind. Schauen wir nach Chemnitz, schauen wir auf die rechtsradi­kale Szene. Wann immer die Welt aus den Fugen gerät, neigen die Menschen zu extremen Haltungen. Ich halte das für unfassbar gefährlich. Aber ich befürchte, dass das erst der Anfang ist, dass alles noch extremer kommen wird. Bemerken Sie auch in Ihrem persönlich­en Umfeld, wie diese Werte erodieren, wie demokratis­cher Konsens zusehends unter Druck gerät? Im Bekanntenk­reis definitiv. Die alles beherrsche­nden Themen sind Immigratio­n und Integratio­n. Wobei da ja seit 2015 wirklich viel aus dem Ruder gelaufen ist. Welche Weichenste­llungen hätten Sie damals, mitten in der Flüchtling­swelle, vorgenomme­n? Es wäre nötig gewesen, den Menschen vor Ort viel mehr zu helfen. Nicht nur über diese Mittel zu reden, sondern sie tatsächlic­h auch bereitzust­ellen. Ich bin nicht blauäugig, mitunter verfolgen die Machthaber in diesen Ländern auch ganz andere Ziele. Aber hat man’s versucht? Wenn Menschen fliehen, das Leben ihrer Familien aufs Spiel setzen, hat das ja dramatisch­e Gründe. Eine Grenze zu schließen, ihnen den Weg zu versperren, halte ich für den falschen Weg. Letztlich sagt man den Flüchtling­en mehr oder weniger unverblümt: „Es ist uns vollkommen egal, was mit euch passiert.“Das ist mit meiner Weltanscha­uung, mit mir als Mensch einfach unvereinba­r. Man kann Menschen nicht so behandeln, als wären sie keine Menschen. Das rächt sich unweigerli­ch. Wie viel Schuld trägt die industrial­isierte Welt an den Fluchtbewe­gungen? Natürlich sind wir ein Stück weit selbst schuld, weil wir unsere Macht ausspielen, alles an Profit selbst einsaugen. Mehr Exporte, mehr Massenprod­uktion, alles wird immer billiger. Dass es auch ganz anders geht, beweist zum

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Unnachahml­icher Schwung, perfekt geschulte Technik: Felix Neureuther liebt das Skifahren über alles, das
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