Kristoffersen: Der schnellste Wikinger im Wilden Westen
Der Norweger Henrik Kristoffersen hat genug von zweiten Plätzen und bläst zur Jagd auf Marcel Hirscher. Doch er sieht sich benachteiligt.
Beispiel Norwegen. Das ist Vorreiter in Sachen Umweltstandards, verbietet ab 2025 Autos mit Verbrennungsmotoren, obwohl Erdöl dort eine der wichtigsten Einnahmequellen ist. Kinder wachsen in Norwegen anders auf, Unterricht etwa findet viel im Freien statt, die Schüler bekommen einen anderen Bezug zur Natur und lernen sie viel mehr zu schätzen. Und bei uns? Du bekommst einen Kindergartenplatz in einem Container, man sitzt ewig in der Schule, bewegt sich keinen Zentimeter. Die Art und Weise, wie unsere Kinder aufwachsen, ist ein brutales Problem. Eines, dem Sie sich mit Ihrer Stiftung, die Bewegungsprogramme an Schulen umsetzt, bald intensiver widmen können. Sie sprechen immer häufiger vom Karriereende. Nach dem Kreuzbandriss brauchte ich ein klares Ziel. Das hieß, dorthin zu kommen, wo ich vor der Verletzung war. Aber klar, ewig wird die Karriere nicht mehr dauern. Sie kann sogar ziemlich rasch vorbei sein. Wenn sich meine Frau (die frühere Biathletin Miriam Gössner, Anm.) entschließt, als Langläuferin in den Weltcup zurückzukehren, würde ich sie voll unterstützen und diesen Schritt setzen. Ihr letztes Weltcuprennen ist nicht mehr fern. Können Sie sich an Ihr erstes erinnern? Freilich, Kranjska Gora 2002, mit 17. Ich hatte die vorletzte Startnummer, kam fünf Tore weit, habe einiges abgeräumt und bekam vom damaligen FISRenndirektor Günter Hujara ziemlich eins auf die Mütze: „Neureuther, du Vollidiot! Wegen dir müssen wir die Besichtigung für den zweiten Lauf um 15 Minuten verschieben!“ Ihre Beliebtheit erreicht in Österreich durchaus erstaunliche Werte. Nicht zuletzt durch kultige Interviews im ORF. Dabei behaupten Sie, dass Ihnen Rampenlicht unangenehm ist? Stimmt auch. Ich hasse rote Teppiche. Wenn ich zu einer Sportgala geladen bin, schwindle ich mich immer durch den Seiteneingang rein. Dieses öffentliche Zurschaustellen ist für mich das Allerschlimmste. Zum ORF hingegen geht man gern, da ist alles lockerer als bei ARD und ZDF. Wenn man zu denen kommt, denkt man unweigerlich: Was steht denn da wieder für ein Piefke? Hat der überhaupt eine Ahnung vom Skifahren? Ihr für Levi geplantes Comeback wurde von dem am Freitag erlittenen Daumenbruch verhindert. Ist das für Sie ein empfindlicher, schwerwiegender Rückschlag? Frust und Schmerzen sind groß. Nach der Operation werden sich ein paar Wochen Pause nicht vermeiden lassen. Was mich tröstet, ist, dass das Knie perfekt hält. Vor dem ersten Schneetraining im August hat mir mein Trainer auf der Bergfahrt erklärt, wie behutsam wir alles angehen werden. Ich sagte nur: „Wenn du mich einmal runterfahren lässt, wie ich will, mache ich den ganzen Tag, was du willst.“Er war einverstanden, daraufhin bin ich jeden Schwung bis zur Liftstation auf Zug gecarvt. Er war fertig mit der Welt. Sie gelten als sehr nahbar im Umgang mit Fans. Wird es Ihnen nie zur Last, eine öffentliche Person zu sein? Wenn du das nicht magst, musst du’s bleiben lassen. Wenn ich mit so einfachen Mitteln Menschen eine Freude bereiten kann – warum nicht? Sehen Sie das zwischen zwei Durchgängen auch so gelassen? Was soll passieren? Dass ich fünf Minuten später zum Start komme? Um mich darüber aufzuregen, bin ich mir selbst nicht wichtig genug. Vom Mond aus betrachtet ist es nämlich relativ egal, ob ich fünf oder 20 Rennen gewonnen habe.
Nehmen wir Marcel Hirscher einmal beim Wort, wenn er sagt: „Die GesamtweltcupBühne gehört Henrik.“So sprach er es vor dem Saisonauftakt in Sölden und erntete dafür ungläubige Blicke, die übliche Tiefstapelei des siebenfachen Gesamtweltcupsiegers eben. Doch Henrik Kristoffersen war, ist und bleibt sein Herausforderer Nummer eins, und spätestens wenn Hirscher, wie viele erwarten, nach diesem Winter Schluss machen wird, steht der erst 24-jährige Norweger in der Thronfolge tatsächlich an erster Stelle.
Ohne Hirscher hätte Kristoffersen bereits zwei Mal den Gesamtweltcup und einmal Olympiagold eingefahren So sind es immer noch beachtliche 16 Weltcupsiege und zwei olympische Medaillen. Doch die elf zweiten Plätze der Vorsaison, die meisten freilich hinter Hirscher und mitunter nur mit wenigen Hundertstel Rückstand, gingen nicht spurlos an ihm vorbei. Nur einmal, ausgerechnet in Kitzbühel, hatte er die Nase vorn.
Ein solches Heimrennen ist Kristoffersen nicht vergönnt. Er stammt aus Rælingen, wenige Kilometer östlich von Oslo. Vater Lars fuhr selbst Skirennen und ist nach wie vor fixer Bestandteil seines Teams. Nicht unüblich für Norwegen, hatte der Rælingen Skiklubb einen eigenen Lift unterhalten. Der Großvater war noch dazu der Vereinsobmann und hatte als solcher den Schlüssel für den Schlepplift im Marikollen Skisenter, wie auch der Vater und der Onkel, alles nur fünf Minuten vom Elternhaus entfernt. Kristoffersen war am Morgen der erste auf der Piste und am Abend derjenige, der den Lift zusperrte. Bis heute sieht er sich als lebender Beweis dafür, dass sich harte Arbeit auch dann auszahlt, wenn man nicht mit dem größten Talent gesegnet ist. Aamodt, die Inspiration. Mittlerweile ist der Norweger ein kompletter Skifahrer. Groß und schlank zwar für einen Technikspezialisten (1,80 m), er wurde auch schon als rasender Spargel bezeichnet, aber in der entscheidenden Relation von Kraft zu Körpergewicht erzielt er Topwerte. So triumphierte er auf den schwierigsten Slalompisten der Welt, in Kitzbühel, Schladming und Adelboden, aber auch auf verhältnismäßig leichten Hängen wie 2016 in Wengen oder im finnischen Levi, wo heute nach dem abgesagten Weltcupauftakt in Sölden die Männer ihr erstes Saisonrennen bestreiten (10.15/13.15 Uhr, live ORF eins, Eurosport).
Zagreb blieb bisher die Ausnahme. Dort wurde er im vergangenen Winter von Hirscher um elf, von Michael Matt um sechs Hundertstel geschlagen. Kristoffersen war fuchsteufelswild, trat im Zielraum um sich. Nicht sein erster Wutausbruch, aber ein gefundenes Fressen für die Medien. Christian Mitter, sein Cheftrainer, relativiert. Ärgern würden sich alle von Zeit zu Zeit, man- Teamplayer oder notorischer Einzelkämpfer? Henrik Kristoffersen. che könnten es eben besser verbergen. Im Vergleich zu einem x-beliebigen Fußballspiel alles halb so wild, Kristoffersen – er ist mit der ehemaligen Handballerin Tonje Barkenes liiert – sei ein Sportsmann und habe noch jedem Konkurrenten gratuliert.
Mitter hat den Siegläufer mitgeformt, war Gruppentrainer im Skigymnasium in Oslo, als der 14-jährige Kristoffersen das Trofeo Topolino, die inoffizielle Schülermeisterschaft gewann, er coachte ihn im Europacup, in dem er als 17-Jähriger schon auf Topniveau fuhr. Nun ist der Steirer Chefcoach der norwegischen Herren und Kristoffersen der große Skistar. Mitter, 38, sagt: „Henrik hat einen unglaublichen Willen, alles für den Sieg zu geben.“
Mit dem Red-Bull-Logo auf der Stirn würde er gern mehr Geld lukrieren.
Der junge Kristoffersen hasste die Schule, nicht, weil er schlecht gewesen wäre, sondern weil das Klassenzimmer seinem ausgeprägten Bewegungsdrang widersprach. Er spielte auch Eishockey, kletterte und fuhr Motocross. 2002 aber sah er, wie Kjetil Andre Aamodt in Salt Lake City Olympiagold im Super-G und in der Kombination gewann, und wusste: „Das ist etwas, das ich tun will.“
Mit 24 Jahren hat er es bereits zur Nummer zwei in seinem Sport gebracht. In diesem Winter werden auch erstmals zwei Servicemänner von Rossignol nur für ihn alle Möglichkeiten auf dem Materialsektor ausschöpfen. Im Kampf um die Nummer eins aber wähnt sich Kristoffersen dennoch im Nachteil. Mit dem Red-Bull-Logo auf dem Helm würde der Wahl-Salzburger gern zusätzlich Geld lukrieren, der Norges Skiforbund hat ihm das aber wegen eigener Sponsorenverpflichtungen verboten. Der Slalomstar bestreikte deshalb sogar ein Rennen, das Thema liegt bei Gericht.
Ein Einzelkämpfer also? Und das in Norwegen, wo erfahrene Profis wie Aksel Lund Svindal, 35, und Kjetil Jansrud, 33, den Takt vorgeben, wo der Teamgedanke über allem steht und sich die Athleten sogar die Betten teilen, wenn es denn sein muss. Chefcoach Mitter verneint. „Das stimmt in der Praxis nicht. Er trainiert im Team.“
Während Ausflüge in Richtung Super-G und damit in den Speedbereich, in dem die Norweger seit Jahren die Topnation sind, durchaus angedacht sind, wandelt Kristoffersen in der Technikmannschaft der Wikinger allein auf weiter Flur. Das könne sich aber schnell ändern, meint Mitter, auch Jungstar Kristoffersen ist schließlich schon in seiner zweiten Weltcupsaison aufs Stockerl gefahren. „Norwegen ist wie der Wilde Westen. Es kommen immer wieder ein paar daher, und die sind dann irrsinnig schnell.“