Vivaldi mit Engelshaar und Stahlwolle
Bei Wien Modern kam Antonio überraschenden Auftrittsehren. Vivaldi heuer zu
Zum viel zitierten Ton, der die Musik macht, gehört auch die Betonung. „Jambus oder Trochäus?“, fragen deshalb die in Sachen Versfüße bewanderten Scherzbolde, wenn sie den Namen des hiesigen Festivals für Neue Musik lesen. In einen aktuellen Beispielsatz gebracht: Antonio Vivaldi, der bekanntlich seit 1741 in Wien modern darf, kam nun bei Wien Modern zu überraschenden Auftrittsehren. Und zwar nicht nur als pikante historische Garnierung eines ausgeklügelten Konzertprogramms, sondern als dessen Rückgrat – 277 Jahre nach seinem Begräbnis auf dem (längst aufgelassenen) Bürgerspitalsfriedhof in der Nähe der Karlskirche.
Möglich gemacht hat es Patricia Kopatchinskaja: Beim Vivaldi dieser wahrlich kühnen Geigerin denkt man keine Sekunde lang ans Modern in der Gruft, sondern er klingt wirklich so modern wie nur möglich – und zwar nicht nur dort, wo sie ihm mit Giovanni Antonini und Il Giardino Armonico eine Stehfrisur via Steckdose zu verpassen scheint. Falsche Legenden. Vivaldi habe dasselbe Konzert 600 Mal komponiert, ätzte Strawinsky über den in allen Genres fleißigen „Prete rosso“, den rothaarigen Priester. Solche Geringschätzung ist ebenso unbegründet wie die vielen Legenden über seinen Tod: Ein Armenbegräbnis sei es gewesen, Joseph Haydn habe als Sängerknabe mitgewirkt – alles fiktiv.
Real, aber kaum zu glauben sind dagegen Töne, Betonungen und vor allem Zwischentöne von Kopatchinskajas Violinspiel. Im wörtlichen Sinn, denn allein zwischen dem gerade schon Vernehmbaren und einem herkömmlich selbstbewussten, klangsatten Piano, das für viele gestandene Solisten die Untergrenze darstellt, eröffnet sie nochmals eine ganze Palette an dynamischen und farblichen Abstufungen.
Ob Engelshaar oder Stahlwolle, Kopatchinskaja scheut kein Extrem und kein Risiko, findet aber auch zu feinsten Nuancen – und die nützt sie einerseits, um Vivaldi als Innovator der Violine zu präsentieren, andererseits für die tatsächliche Moderne: Eine Handvoll lebender Komponisten haben für sie und ihre Vivaldi-Tour neue Werke geschaffen. Jazz und Orient. In Luca Francesconis dramatischem „Spiccato il Volo“, einer solistischen Brücke zwischen zwei Vivaldi-Concerti, sprühen die Klangfunken oder rieseln einmal wie Glasstaub – und in Giovanni Sollimas „Moghul“, einem Pendant zum Concerto „Il Grosso Mogul“, räkelt sich die Violine unter mediterraner Sonne dort, wo Jazz und Orient aufeinandertreffen. Historische Floskeln sind in zwei Werken verarbeitet, in
Kopatchinskajas Spiel lebte immer schon vom Kontrast auf allen Ebenen.
denen Antonini als zweiter Solist zur Blockflöte griff: Hackschnitzelbarock, der in Simone Movios „Incanto XIX“mehr Spaß machte als in Aureliano Cattaneos „Estroso“. Herausragend freilich die historische Avantgarde: Großartig, mit welch subtiler Hochspannung Kopatchinskaja in Giacinto Scelsis „L’ameˆ ouverte“ins Tonloch D bohrte und über Halb- und Vierteltonreibungen schließlich beim F herauskam. Überhaupt rennt sie bei Antonini und dem Giardino offene Türen ein: Ihre zupackenden Interpretationen lebten immer schon vom Kontrast auf allen Ebenen – und können doch mit dem immer noch Leiseren betören.
In dieser Spiellaune wirkt es auch ganz natürlich, wenn die stürmischen Klangkaskaden von Vivaldis „La tempesta di mare“mit einer wilden Kadenz garniert werden, die Geigerin an der Windmaschine kurbelt und der Dirigent das Donnerblech beutelt – oder wenn es in „Il Grosso Mogul“ganz a` la Wien Modern improvisatorisch wuchert. Jubelstürme!