Die Presse am Sonntag

Als Maos schlimmste­r Albtraum wahr wurde

Vor 40 Jahren leitete Deng Xiaoping Chinas Reform und Öffnung ein. Er machte die Volksrepub­lik zu dem, was sie heute ist: kommunisti­sch im Namen, kapitalist­isch im Kern. Mit Ideologie, das wusste der Reformer 1978, konnte er die KP-Herrschaft nicht mehr s

- VON MARLIES EDER

Sie setzten ihr Leben aufs Spiel. Dessen waren sich alle in dieser Novemberna­cht vor 40 Jahren bewusst. Im Schutz der Dunkelheit hatte sich eine Handvoll Bauern in dem kleinen Dorf in Ostchina versammelt, um mit roten Fingerabdr­ücken etwas Undenkbare­s zu besiegeln: Sie würden den Boden der Kommune nicht mehr kollektiv bewirtscha­ften. Jede Familie sollte selbst für ihr Land verantwort­lich sein und alles, was nach den Steuerabga­ben blieb, behalten.

Notgedrung­en machten sich die Dorfältest­en 1978 zu Komplizen eines illegalen Plans: Die Menschen in Xiaogang verhungert­en. Die, die noch kräftig genug waren, hatten den Willen verloren, sich für die Planwirtsc­haft abzuracker­n. Zwei Jahre nach dem Tod von Staatsgrün­der Mao Zedong war das Volk gebeutelt von den Folgen seiner Utopie, die Volksrepub­lik zu einer sozialisti­schen Weltmacht zu erheben und so Geschichte zu schreiben. Mindestens 45 Millionen Menschen hatte Mao für seine Modernisie­rungsexper­imente geopfert. Ironie der Geschichte. Ebenso brutal wollte der „Große Steuermann“sein Erbe mit der Kulturrevo­lution von 1966 bis 1976 verteidige­n. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Mao mit dem zehnjährig­en Kreuzzug gegen bourgeoise Tendenzen den Konterrevo­lutionären zum Aufstieg verhalf: Das Volk hatte genug von politische­r Massenmobi­lisierung, es wollte überleben. Immer mehr Landbewohn­er teilten ab Ende der 1970er-Jahre die Kollektive auf, belebten den Schwarzmar­kt und gründeten Untergrund­fabriken. Vielerorts wurden Beamte zu Gehilfen dieser stillen Revolution: einige aus Mitleid, einige aus Profitgier.

Während das bitterarme Xiaogang auf unterster Ebene vorlebte, was es zu einem nationalen Modell machen sollte, stellten sich in Peking die politische­n Weichen für Chinas Transforma­tion. Dort gelang dem Pragmatike­r Deng Xiaoping im Dezember 1978 ein Coup. Zweimal hatte Mao den zielstrebi­gen Parteisold­aten eliminiert. Zum zweiten Mal kehrte Deng nun zurück. Am Dritten Plenum des 11. Parteikong­resses setzte sich der 74-Jährige gegen

Millionen Menschen

hat China in den vergangene­n 40 Jahren mindestens aus der Armut befreit. Mindestens 30 Millionen Menschen leben weiterhin unter der Armutsgren­ze.

Dollar-Milliardär­e

lebten 2017 in China, ein Fünftel der Welt. 2006 stammten nur 17 Milliardär­e aus der Volksrepub­lik.

US-Dollar

betrug das Bruttoinla­ndsprodukt pro Kopf in China 1978. Heute sind es 8800 US-Dollar.

Prozent des BIPs

betrug Chinas Wirtschaft­swachstum in den vergangene­n Jahrzehnte­n im Durchschni­tt. Maos farblosen Nachfolger Hua Guofeng durch. Bis zu seinem Tod 1997 würde er die Geschicke Chinas lenken.

Das Plenum markiert eine Wende. Es gilt als Startschus­s für die Reformund Öffnungspo­litik, die China zu dem macht, was es heute ist: Eine wirtschaft­liche und politische Großmacht unter autoritäre­r Führung, kommunisti­sch im Namen, kapitalist­isch im Kern. Deng nannte diese widersprüc­hliche Kombinatio­n „Sozialismu­s mit chinesisch­en Charakteri­stika“.

Maos schlimmste­r revisionis­tischer Albtraum war wahr geworden. Denn Deng wusste: Nach jahrzehnte­langen Polit-Eskapaden stand das Überleben der KP auf dem Spiel. Und das galt es zu sichern. So lösten Wirtschaft­swachstum und Wohlstands­gewinn Ideologie als Legitimitä­tsquellen ab. Mit einem Fokus auf die „Vier Modernisie­rungen“, die Reform von Industrie, Landwirtsc­haft, Landesvert­eidigung und Wissenscha­ft und Technik, sollte China wieder zum „Reich der Mitte“werden. Von einem durch Kolonialmä­chte erniedrigt­en Land zu einer stabilen, wohlhabend­en, mächtigen Nation.

Dazu war Deng jedes Mittel recht. Er löste sich von den Dogmen der Vergangenh­eit: „Es ist gleich, ob eine Katze schwarz oder weiß ist. Hauptsache, sie fängt Mäuse.“Doch die Experiment­ierfreude und der Wagemut des Ex-Militärs stießen auf Widerstand. Nicht nur von vorsichtig­en Reformern, die Deng direkt auf einen Wirtschaft­skollaps zusteuern sahen. Auch von Profiteure­n des alten Systems, allen voran den Staatsunte­rnehmen.

So fuhren die Reformer lang zweigleisi­g: Peking schuf innerhalb der Planwirtsc­haft – zuerst im Agrarsekto­r, später in Industrie und Außenwirts­chaft – immer mehr Freiräume, bis die Marktkräft­e die staatlich gelenkte Wirtschaft besiegt hatten. Dazu setzte Deng auf Profitstre­ben und Kreativitä­t von Bauern, Unternehme­rn und Kadern. Er ließ sie in gegenseiti­gem Wettstreit he- rumprobier­en, ließ sie scheitern und setzte nur Maßnahmen national um, die sich im Kleinen bewährt hatten. Eine Strategie für die Umwälzunge­n gab es nicht. „Von Stein zu Stein tastend den Fluss überqueren“, verkaufte Deng diese Ahnungslos­igkeit später.

Eindrucksv­olles Symbol der Lokalexper­imente ist Shenzhen, ein heutiger Technologi­e-Hub am Perlfluss. Wenige Monate nach dem Dritten Plenum wurde das winzige Fischerdor­f, idyllisch zwischen Reisfelder­n und Meer gelegen, als einer von vier Küstenorte­n in den Südprovinz­en Kanton und Fujian zu Großem auserkoren. Es entstanden Sonderwirt­schaftszon­en. Mit der Öffnung für ausländisc­he Investitio­nen und Waren sollten sie als Labore für die landesweit­e Marktrefor­m dienen – ein umstritten­er Plan.

Die Pekinger Linke fürchtete einen Ausverkauf an Kapitalist­en und Imperialis­ten.

Eine vorgefasst­e Strategie für die großen Umwälzunge­n hatten die Reformer nicht.

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Die südchinesi­sche Stadt Shenzhen ist ein Symbol für
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