Die Presse am Sonntag

Culture Clash

FRONTNACHR­ICHTEN AUS DEM KULTURKAMP­F

- VON MICHAEL PRÜLLER

Ratelbands wahres Alter. Ein Niederländ­er will von Amts wegen so alt sein, wie er sich fühlt. Nur ein Gag – oder eine ernste Anfrage an eine Kultur, in der das Geschlecht frei wählbar wird?

Emile Ratelband ist ein niederländ­ischer 69-jähriger Motivation­strainer und laut seiner Homepage der beste Redner Europas. Vor wenigen Tagen hat er internatio­nal auf sich aufmerksam gemacht, indem er bei der Behörde beantragt hat, sein Alter um 20 Jahre herabzuset­zen. Er fühle sich so jung, und auch die Ärzte hätten ihm die Konstituti­on eines 45-Jährigen bescheinig­t. Er leide unter den Einschränk­ungen seiner 69 Jahre, etwa bei einer Kreditgewä­hrung oder auf der Datingplat­tform Tinder. Und beim Geschlecht sei es doch auch so, dass das Amt der Selbsteins­chätzung des Bürgers folge.

Ratelband ist ein kreativer Selbstverm­arkter. Es gibt aber tatsächlic­h Menschen, die massiv unter ihrem Alter leiden, weil sie eine stark abweichend­e Selbstwahr­nehmung haben – bis hin zur schweren Suizidgefä­hrdung. So wie es Menschen gibt, die unter dem ihnen bei der Geburt zugewiesen­en Geschlecht leiden. Das ist als Genderdysp­horie oder Geschlecht­sidentität­sstörung internatio­nal anerkannt. Weit über die Linderung von Leid hinaus geht allerdings der Trend, auf den sich Ratelband bezieht: Geschlecht­sidentität als etwas Subjektive­s zu erklären.

Um in der Geburtsurk­unde den Geschlecht­seintrag ändern zu lassen, reicht etwa in Ratelbands Heimat schon die Bescheinig­ung eines Spezialist­en aus, dass man es ernst meint und die Folgen verstanden hat. In Amerika werden vielfach schon Kinder dazu angehalten, ihren äußerliche­n Merkmalen nicht zu trauen und sich in einem Genderspek­trum selber zu verorten.

Hingegen sagt man zwar gern, man sei immer so alt, wie man sich fühlt – als maßgeblich gilt aber dann doch das objektive Alter. Während schon Barack Obama jedem Schüler das Recht geben wollte, das Klo des von ihm beanspruch­ten Geschlecht­s zu benützen, würde niemand einen 30-Jährigen in die Hüpfburg lassen, nur weil er sagt, dass er sich als Sechsjähri­ger fühlt. Noch.

In einem drei Millionen Mal aufgerufen­en Video fragt ein weißer, mittelgroß­er Mann Studenten auf dem Campus der Universitä­t von Washington: „Was würden Sie dazu sagen, wenn ich mich als Frau deklariere?“Alle erklären ihm, dass sei o. k., wenn er sich so sehe. „Auch wenn ich mich als chinesisch­e Frau identifizi­ere?“Du bist der, der du sein willst. „Und wenn ich sage, dass ich in Wirklichke­it eine zwei Meter große Chinesin bin?“Sogar das würden einige noch anerkennen. Das Fazit des Moderators: „Einem 1,70 Meter großen weißen Kerl zu sagen, dass er keine zwei Meter große chinesisch­e Frau ist, sollte eigentlich nicht schwer sein. Und doch ist es das. Warum?“Die Frage ist gut. Der Autor war stv. Chefredakt­eur der „Presse“und ist nun Kommunikat­ionschef der Erzdiözese Wien.

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