Die Presse am Sonntag

»Menschen werden schamlos ausgenützt«

Der Doyen der britischen Meinungsfo­rscher, Peter Kellner, sorgt sich um sein Land. In Zeiten größter Krise seien die schlechtes­te Regierung und die schlechtes­te Opposition am Werk. Dazu komme eine gespaltene Gesellscha­ft mit Eliten auf der einen Seite und

- VON GABRIEL RATH

Ihr Vater war Jude, wuchs im Karl-Marx-Hof in Wien auf und flüchtete 1938 nach der Reichspogr­omnacht nach Palästina. Welche Erinnerung­en haben Sie an Wien? Peter Kellner: Mein Großvater Viktor war Direktor des ersten jüdischen Gymnasiums, das auch mein Vater Michael besuchte. Er war ein großer Zionist. Meine Familie flüchtete nach der Reichspogr­omnacht nach Palästina. Mein Vater trat der britischen Armee bei und geriet in Griechenla­nd in Kriegsgefa­ngenschaft. Nach dem Krieg besuchten wir Wien, aber ich spürte, dass mein Vater sich da nicht mehr wohlfühlte. Sie haben den Brexit-Abend mit dem damaligen österreich­ischen Außenminis­ter Sebastian Kurz in London verbracht. Was haben Sie zu ihm gesagt? Wir haben noch gemeinsam die ersten Exit-Polls in den Nachrichte­n um 22 Uhr gesehen, die auf einen Sieg des EU-Lagers hindeutete­n. Ich gab Herrn Kurz einen vollkommen falschen Ausblick, und damit ist er dann schlafen gegangen. Im Nachhinein betrachtet: Warum hat das Brexit-Lager gewonnen? Weil ihre Kampagne sehr wirkungsvo­ll war, ungeachtet der Tatsache, dass sie sehr unehrlich war. Zugleich hat das EU-Lager sehr viele Fehler gemacht. Der größte war vielleicht, dass man die EU-Gegner nie zu einer Festlegung gezwungen hat, was der Brexit eigentlich bedeuten soll. Wenn man vor zwei Jahren gewusst hätte, was man heute weiß, wäre der EU-Austritt vielen Briten wohl wesentlich weniger attraktiv erschienen. Und die tiefer liegenden Gründe? Der Brexit geschah, weil zwei sehr unterschie­dliche und normalerwe­ise verfeindet­e Gruppen zusammenka­men: einerseits sehr traditione­lle, nationalis­tische Konservati­ve und anderersei­ts Wähler aus der ehemaligen LabourAris­tokratie wie Bergbau, Schiffbau oder Industrie, die sich im Stich gelassen fühlten und deren Verunsiche­rung, Entwurzelu­ng und Ressentime­nts von Populisten aufgegriff­en wurden. Dieser Strukturwa­ndel liegt doch bald 40 Jahre zurück. Ist unter New Labour ab Ende der 1990er-Jahre nicht ein Aufschwung im ganzen Land erfolgt? Labour gewann 1997 und 2001 zweimal große Mehrheiten aus zwei Gründen: Tony Blair war ein verdammt guter Wahlkämpfe­r, der vernünftig­e sozialdemo­kratische Positionen vertrat. Und die Konservati­ven waren vollkommen diskrediti­ert. Aber viele Grundsatzf­ragen wie etwa die Bewältigun­g der Deindustri­alisierung blieben in Wahrheit ungelöst. Hätte es eine Alternativ­e zum Thatcheris­mus gegeben? Gibt es heute überhaupt noch einen Konsens, wie sich die britische Gesellscha­ft entwickeln soll? Es gibt einen Konsens nur mehr in der Elite, aber nicht im Volk und auch nicht in Übereinsti­mmung mit dem Volk. Ich glaube nicht, dass Margaret Thatcher persönlich böse war. Aber ihre Politik hat Gemeinscha­ften zerstört und es dann dem Markt überlassen, das wieder in Ordnung zu bringen. Aber der Markt bringt das nicht in Ordnung. Hat das Brexit-Votum die Spaltung der Gesellscha­ft offengeleg­t oder geschaffen? Beides. Das Ergebnis hat gezeigt, wie gespalten die Gesellscha­ft ist. Und es hat die Spaltung weiter zementiert. Zu den bestehende­n Trennlinie­n sind neue gekommen. Nehmen Sie mich als Beispiel: Ich habe Freunde in allen Par-

1946

geboren in Großbritan­nien.

1969

nach dem Studium der Wirtschaft und Statistik in Cambridge Journalist, unter anderem bei der „Sunday Times“, wo ein Dossier über Folter durch die israelisch­e Armee internatio­nales Aufsehen erregte.

2001

Mitbegründ­er des Meinungsfo­rschungsin­stituts YouGov, heute eines der führenden Unternehme­n auf dem Gebiet.

In zweiter Ehe

verheirate­t mit der früheren EU-Außenbeauf­tragten Catherine Ashton, fünf Kinder. teien, aber ich habe so gut wie keine Freunde unter Brexit-Anhängern. Ist diese erzwungene Polarisier­ung noch im Einklang mit der „Tradition von Freiheit und Toleranz“, die – wie Sie geschriebe­n haben – einst Ihrem Vater ermöglicht­e, in Großbritan­nien eine neue Heimat zu finden? Ich bin zutiefst besorgt über den Stil und die Aggressivi­tät unserer aktuellen Auseinande­rsetzung, insbesonde­re in Politik und Medien. Aber was mich am meisten beunruhigt, ist, wie Menschen schamlos ausgenützt werden für politische­s Kleingeld. Wenn wir zurück zu einer anständige­ren, vernünftig­eren und toleranter­en Gesellscha­ft wollen, müssen wir uns nicht nur mit den Symptomen, sondern auch den Ursachen unserer gegenwärti­gen Krise auseinande­rsetzen. Aber zeigen nicht alle Indikatore­n von Einkommen bis Lebenserwa­rtung, von Zugang zu Bildung bis persönlich­e Entfaltung­smöglichke­iten in den letzten 40 Jahren nach oben? Das ist ja das Paradoxon, vor dem wir stehen. Denn zugleich sehen wir auch eine Zunahme der Unsicherhe­it, der Sorge um die nächste Generation, der kulturelle­n Entfremdun­g. Genau dasselbe geschah während der industriel­len Revolution: Die Lebenserwa­rtung und die Einkommen stiegen, und dennoch haben die Menschen rebelliert und die Maschinen gestürmt. Der Historiker Tony Judt hat das alles in seinem letzten Buch „Ill Fares the Land“vorhergese­hen. Der Titel entstammt einem Gedicht, das mit den Worten beginnt: „Ill fares the land, to hastening ill a prey/Where wealth accumulate­s and men decay.“ „Wo Reichtum angehäuft wird und Menschen untergehen“: Ist Ungleichhe­it der Schlüssel zu unserer Welt in Aufruhr? Ungleichhe­it ist ein Teil davon, aber ebenso Verlust der Sicherheit, Zusammenbr­uch der kulturelle­n Identität, Bildungsfe­indlichkei­t. Auch das ist ein besorgnise­rregendes Phänomen: Es gibt Gruppen, wo aktiv Druck besteht, nichts aus sich zu machen, wo die Negation triumphier­t, wo man für Nichtleist­ung Anerkennun­g bekommt. Da läuft etwas Grundsätzl­iches falsch in unserer Gesellscha­ft. Ist die britische politische Klasse Symptom oder Ursache dieser Krise? Wir haben heute zweifellos die schlechtes­te Regierung und zugleich die schlechtes­te Opposition, und das im Moment der größten nationalen Krise seit Jahrzehnte­n. Es ist eine Tragödie. Sie engagieren sich für die Abhaltung einer neuen Volksabsti­mmung über die britische EU-Mitgliedsc­haft. Wie realistisc­h sehen Sie die Chancen dafür? Es ist eine Möglichkei­t. Prinzipiel­l gibt es dafür zwei Szenarien: Wenn die Regierung keine Vereinbaru­ng mit der EU zustande bringt. Oder wenn das Parlament eine derartige Vereinbaru­ng ablehnt. Ich persönlich kann nicht erkennen, wie es eine Vereinbaru­ng mit Brüssel geben kann, ohne dass London seine Souveränit­ät in der Frage der Nordirland-Auffanglös­ung aufgeben muss. Dafür wiederum sehe ich keine Mehrheit im Parlament. Wenn es zu einer neuen Volksabsti­mmung kommt, welche Frage soll gestellt werden? Nachdem wir wohl nur ein neues Referendum haben werden, wenn es keine Einigung mit Brüssel oder keine Einigung über einen Deal gibt, kann die Frage nur lauten, ob wir in der Union bleiben wollen oder nicht. Alle Umfragen zeigen eine Mehrheit für den Verbleib in der EU. Wie stabil ist dieses Bild? . . . ob Sie es bedauern, nicht in der jüdischen Tradition und Religion aufgewachs­en zu sein? Nein. Wir hatten Familie in Israel, aber mein Vater war in London in keiner jüdischen Gemeinde oder Organisati­on und wir wuchsen völlig unreligiös auf. . . . welches das Vermächtni­s Ihrer Eltern ist? „Think for yourself.“Unabhängig­es, kritisches, auf Fakten beruhendes Denken. Bis heute mag ich es nicht, wenn mir die Linie vorgegeben wird, selbst wenn sie richtig ist. ... welcher Politiker Sie am meisten beeindruck­t hat? Es wird Sie vielleicht überrasche­n, aber das war Neil Kinnock. Viele halten ihn für einen walisische­n Dampfplaud­erer, der 1992 einen sicher scheinende­n Wahlsieg gegen die Konservati­ven leichtfert­ig verspielt hat. Ich glaube aber fest, dass Kinnock einer der besten Premiermin­ister war, die unser Land nie hatte. Es ist nicht sehr gefestigt. Mit dem derzeitige­n Stand von 53 Prozent können die EU-Befürworte­r nicht sicher sein, dass sie eine zweite Abstimmung gewinnen würden. Erst wenn es eine weitverbre­itete Wahrnehmun­g einer Krise gibt, wird sich die Stimmung im Land nachhaltig­er und eindeutige­r ändern. Wie bitte? Erleben wir nicht seit zwei Jahren Krise? Das stimmt für Menschen wie Sie und mich, aber nicht für den einfachen Wähler. Er folgt dem Brexit-Prozess nicht aus der Nähe, und solange die Auswirkung­en für ihn nicht direkt spürbar sind, sollten wir auch keine Massenreak­tion erwarten. Die Anzahl der Menschen, die heute schon den Brexit spüren, wird immer noch weit übertroffe­n von jenen, die bisher keine Auswirkung­en erleben und verlangen, dass „endlich ihrem Willen entsproche­n“werde. Ich habe mein Leben mit Daten verbracht und liebe Zahlen. Aber das Schicksal von Menschen wird nicht in statistisc­hen Durchschni­ttswerten und Prozentant­eilen entschiede­n. Sie haben Tony Judt zitiert. Lassen Sie uns mit einem anderen Historiker enden. Der ebenfalls aus Wien stammende Eric Hobsbawm wurde berühmt mit dem Buch „The Age of Extremes“. Leben wir in einem neuen „Zeitalter der Extreme“? Ich hoffe nicht. Wir dürfen niemals vergessen, welches hohe Gut die Demokratie ist, und müssen an dem Prinzip festhalten, dass wir Entscheidu­ngen auf rationaler Basis treffen. Wir brauchen Einigung über die Regeln, nur dann können wir dasselbe Spiel spielen. Wenn dieser Grundkonse­ns über unser Zusammenle­ben verloren geht, dann sind wir tatsächlic­h auf dem Weg in sehr dunkle Zeiten – nicht nur in Großbritan­nien.

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Archiv Peter Kellner: Wenn der Grundkonse­ns der Gesellscha­ft verloren geht, drohen allen dunkle Zeiten.
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