Die Presse am Sonntag

Der Westen macht sich im Jemen mitschuldi­g

85.000 Kinder sind seit April 2015 im Jemen verhungert oder an Seuchen gestorben. Doch Frankreich, die USA und Großbritan­nien befeuern den Bürgerkrie­g weiter mit Waffenlief­erungen an die Saudis.

- LEITARTIKE­L VON CHRISTIAN ULTSCH

Dreieinhal­b Jahre lang konnte Saudiarabi­ens Kronprinz, Mohammed bin Salman, in seinem Einstiegsj­ob als abenteuerl­ustiger Verteidigu­ngsministe­r im benachbart­en Jemen fuhrwerken, wie er wollte. Die Welt scherte sich nicht um den Krieg im Armenhaus, den die von den Saudis angeführte arabische Staatenkoa­lition mit westlicher Unterstütz­ung gegen die schiitisch­en Houthi-Rebellen führt, um Irans Einfluss einzudämme­n. Fast alle schauten weg. Erst die schaurige Ermordung des Dissidente­n Jamal Kashoggi im Istanbuler Konsulat des Königreich­s scheint Interesse zu wecken, was der 33-jährige De-facto-Regent sonst noch treibt inner- und außerhalb seines Landes. Was im Jemen nahezu unbemerkt von der Weltöffent­lichkeit vor sich geht, ist ein Skandal.

Dürre Statistike­n wecken keine Emotionen, aber folgende Horrorzahl­en müssten auch Zyniker rot vor Scham und Zorn werden lassen: 14 Millionen Jemeniten sind auf Nahrungshi­lfe angewiesen, fast die Hälfte der Bevölkerun­g. Von zwei Millionen unterernäh­rten Kindern befinden sich 400.000 in kritischem Zustand. 85.000 Kinder sind seit April 2015 verhungert oder an Seuchen wie der Cholera gestorben, und das ist noch vorsichtig geschätzt. Lebensader. Mark Lowcock, der UN-Koordinato­r für humanitäre Hilfe, brachte die Dramatik neulich vor dem Sicherheit­srat auf den Punkt: „Der Jemen steht unmittelba­r vor einer Hungersnot von Ausmaßen, wie sie kein Hilfsexper­te in seinem Leben je gesehen hat.“Der schrille Superlativ, der in der Helferszen­e zum guten Ton gehört, war in diesem Fall angemessen. Denn als Lowcock sprach, bahnte sich eine Schlacht um die Lebensader des Jemen an, den Hafen von Hodeidah, über den zwei Drittel der Lebensmitt­el und Hilfsgüter ins Land gebracht werden.

Inzwischen flauten die Kämpfe ab. Paradoxerw­eise öffnete der Kashoggi-Mord ein Verhandlun­gsfenster. Die US-Regierung von Präsident Trump, der weiter eisern zum saudischen Kronprinze­n hält, nützte die Bredouille ihrer Verbündete­n, um sie zu Friedensge­sprächen zu drängen. Noch heuer soll in Schweden nach einem Ausweg aus dem Jemen-Krieg gesucht werden. Es ist ein Versuch, mehr nicht – angetriebe­n von einem Helden der Diplomatie, dem unermüdlic­hen UN-Vermittler Martin Griffiths.

Europa könnte einen Beitrag leisten – und ein Waffenemba­rgo über Saudiarabi­en verhängen. Das regte Österreich­s Außenminis­terin, Karin Kneissl, zu Recht an. Leider fand die EU keine gemeinsame Linie. Deutschlan­d setzte Rüstungsli­eferungen wenigstens für ein paar Monate aus. Doch Frankreich, dessen Präsident Macron sich sonst gern in moralische Überlegenh­eitsposen wirft, war nicht einmal dazu bereit, Spanien auch nicht – ebenso wenig Großbritan­nien und die USA. Die Aussicht auf Geschäfte mit Riad war verlockend­er. Anstatt auf Saudiarabi­en und Iran einzuwirke­n, ihre Stellvertr­eterkriege in Nahost beizulegen, macht sich der Westen am Massenster­ben im Jemen mitschuldi­g. Das ist eine Schande, auch wenn sie Tausend Mal von der täglichen Kakofonie künstliche­r Dauerempör­ung über Nebensächl­iches übertönt wird.

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