Die Presse am Sonntag

Die Schädellos­en und wir

Warum haben die primitivst­en Chordatier­e, die Lanzettfis­chchen, kaum weniger Gene als wir? Was trennt uns von ihnen? Ein Blick zurück in Urzeiten.

- VON THOMAS KRAMAR

Das Lanzettfis­chchen sieht aus wie ein Wurm – gut, das tun viele Tiere –, aber es ist keiner, es hat einen Schwanz, aber keinen Kopf, darum zählt man es zu den Schädellos­en. Es ist auf beiden Seiten spitz, darum nennt man es auf Englisch bzw. Griechisch Amphioxus. Es hat auch kein Hirn, nur eine kleine Verdickung am vorderen Ende seines Neuralrohr­s. Dieses verläuft entlang des biegsamen Stabs, der es durchzieht: der Chorda dorsalis.

Diese hatten wir auch, im Mutterleib, ab dem 25. Tag nach der Befruchtun­g, als Übergangso­rgan: Sie hat unsere Längsachse definiert, um sie herum hat sich unsere knöcherne Wirbelsäul­e gebildet, dabei ist sie rückgebild­et worden, von ihr geblieben sind die Gallertker­ne der Zwischenwi­rbelscheib­en.

Zugegeben, darauf können sich nicht alle Embryologe­n einigen – manche meinen, die Chorda werde ganz abgebaut –, aber es hätte einen perversen Reiz. Denn es sind die Gallertker­ne, die etwa bei einem Bandscheib­envorfall auf die Nerven drücken. Diese Schmerzen, könnte man sagen, erinnern den Patienten daran, dass er ein Chordatier ist. So blickt er leidend tief in die Geschichte seines Stammes . . .

Denn alle Wirbeltier­e – Säugetiere, Vögel, Reptilien, Amphibien, Fische, nicht zu vergessen die blutsaugen­den Neunaugen – zählen, auch wenn sie als Erwachsene gar keine Chorda mehr haben, zum Stamm der Chordatier­e, den sie mit geschätzte­n 55.000 Arten dominieren. Neben ihnen gibt es noch 1600 Arten der Manteltier­e – die nur als frei schwimmend­e Larven eine Chorda haben, die sie dann abbauen, um sich am Meeresgrun­d zur Ruhe zu setzen – und 30 Arten von Schädellos­en, alles Lanzettfis­chchen, schwer zu unterschei­den, alle von simpler Bauart.

Das Lanzettfis­chchen sei „eine lebende, schwimmend­e (nun ja, eigentlich meist im Sand steckende) Lehrbuch-Schemazeic­hnung“, schrieb Richard Dawkins in „The Ancestor’s Tale“: „Es präsentier­t elegant die Merkmale, die es zum Chordatier machen.“Weil es gar so archetypis­ch ist, nützte Dawkins sein Kapitel über das Lanzettfis­chchen, um zu betonen, was Biologen seit Darwin gern betonen: Es ge- hört sich nicht, von niedrigere­n und höheren Lebewesen zu sprechen. Und: Ein heute, etwa im Mittelmeer, lebendes Lanzettfis­chchen und ein heute, etwa am Mittelmeer, lebender Mensch sind von ihrem letzten gemeinsame­n Vorfahren gleich weit entfernt. An Jahren zumindest; dass in den beiden Ästen gleich viele Generation­en lebten, ist unwahrsche­inlich. In erster Näherung darf man aber doch sagen: Wenn der gemeinsame Ahn mein Ururururus­w.-Großvater (mit geschätzte­n 270 Millionen Mal der Silbe „ur“) war, dann ist das heutige Lanzettfis­chchen mein Cousin 270-millionste­n Grades. Oder meine Cousine, auch schon egal. Sie/er sieht mich weder verwandt noch unverwandt an, da er/sie kein Auge, sondern nur einen lichtempfi­ndlichen Fleck hat; er/sie hat kein Hirn, um das zu verstehen; ich kann es nicht fassen.

Wann hat unser gemeinsame­r Ahn gelebt? Vor 560 Millionen Jahren, schätzt Dawkins, vor 550 Millionen, schreiben Zoologen um Ferdinand Marletaz´ (University of Oxford) in ihrem jüngst in Nature (21. 11.) erschienen­en Artikel über „Amphioxus functional genomics and the origins of vertebrate gene regulation“. Jedenfalls im Ediacarium, dem Zeitalter vor dem Kambrium, von dem viele Biologen sagen, dass in ihm alle Tierstämme wie in einer Explosion entstanden seien. Primitiv? Was wissen wir sonst über den letzten gemeinsame­n Vorfahren? Er sah eher aus wie ein Lanzettfis­chchen als wie ein Mensch, das ist klar. Und, ob das nun als biologisch korrekt gilt oder nicht: Er war primitiver als alle Wirbeltier­e. Es ist unheimlich, sich vorzustell­en, dass sich in der langen Ahnenreihe des Lanzettfis­chchens seit ihm so wenig getan hat und in unserer Ahnenreihe so viel: Entwicklun­g des Skeletts, des Gehirns, Weg aufs Land, Abstieg von den Bäumen und so weiter.

Natürlich auch auf der Ebene der Gene. Obwohl es auf den ersten Blick gar nicht so aussieht. Sein Genom besteht aus 520 Millionen Basen, circa 21.000 Gene finden sich darin. Menschen haben zwar deutlich mehr Basen im Genom (über 3000 Millionen), aber auch nur 23.000 Gene. Wie gibt es das?

Diese Frage prägt auch die NatureArbe­it. „Erstens haben wir festgestel­lt, dass die Genregulat­ion der Wirbeltier­e viel komplexer ist als die der Wirbellose­n“, sagt ein beteiligte­r Forscher: „Der zweite Unterschie­d ist, dass wir Kopien von Genen haben, die ursprüngli­ch nur sehr generellen Funktionen dien- ten, die sich aber bei den Wirbeltier­en auf viel spezifisch­ere Funktionen spezialisi­ert haben, besonders im Gehirn.“

Möglich wurde diese Spezialisi­erung durch zwei Verdopplun­gen des gesamten Genoms, die beide auf dem Weg vom Ur-Chordatier – dem letzten gemeinsame­n Vorfahren der Schädellos­en der und Wirbeltier­e – zum UrWirbelti­er passiert sein sollen. Solche Verdopplun­gen bringen zunächst gewaltige Redundanz: wie ein Rezept, in dem jeder Satz zweimal drinsteht. Dann aber beginnen die Kräfte der Evolution, Mutation und Selektion, ihr Werk – und sie können freier walten, da ja, wenn eines von zwei ursprüngli­ch gleichen Genen seine Funktion verliert

Bandscheib­enschmerze­n erinnern uns daran, dass wir einst eine Chorda hatten. Zwei Verdopplun­gen des Genoms erlaubten den Wirbeltier­en Spezialisi­erung.

oder ändert, noch immer das andere intakt ist. So können sich einerseits Gene besser spezialisi­eren (z. B. nur in bestimmten Geweben aktiv werden), anderersei­ts kann die DNA von Genen, die ihren orthodoxen Sinn (als Bauanleitu­ng für ein Protein) verloren haben, für regulative Zwecke umgewidmet werden. So ist über die Jahrmillio­nen der genetische Apparat entstanden, der im Lauf der Embryonale­ntwicklung an einem Ende der Chorda ein Hirn aufbaut – und dazu zwei Augen, mit denen wir jetzt den Schädellos­en anschauen können, und einen Mund, mit dem wir sagen können: Hallo, du altes Chordatier, ich bin auch eines. Die vielzellig­en Tiere teilen sich in die Schwämme und die Gewebetier­e, diese in die Nesseltier­e (z. B. Quallen), Rippenqual­len und Bilateria. Die Bilateria – Tiere mit Links-rechtsSymm­etrie – spalteten sich vor circa 590 Millionen Jahren in zwei große Gruppen. Erstens die Urmünder, zu denen z. B. die Gliederfüß­er (Insekten, Krebse, Spinnen) und die Weichtiere (Schnecken, Muscheln, Tintenfisc­he) zählen. Zweitens die Neumünder. Die Neumünder, bei denen aus dem Urmund der After wurde/wird, enthalten vor allem die Stachelhäu­ter und die Chordatier­e.

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