Die Schädellosen und wir
Warum haben die primitivsten Chordatiere, die Lanzettfischchen, kaum weniger Gene als wir? Was trennt uns von ihnen? Ein Blick zurück in Urzeiten.
Das Lanzettfischchen sieht aus wie ein Wurm – gut, das tun viele Tiere –, aber es ist keiner, es hat einen Schwanz, aber keinen Kopf, darum zählt man es zu den Schädellosen. Es ist auf beiden Seiten spitz, darum nennt man es auf Englisch bzw. Griechisch Amphioxus. Es hat auch kein Hirn, nur eine kleine Verdickung am vorderen Ende seines Neuralrohrs. Dieses verläuft entlang des biegsamen Stabs, der es durchzieht: der Chorda dorsalis.
Diese hatten wir auch, im Mutterleib, ab dem 25. Tag nach der Befruchtung, als Übergangsorgan: Sie hat unsere Längsachse definiert, um sie herum hat sich unsere knöcherne Wirbelsäule gebildet, dabei ist sie rückgebildet worden, von ihr geblieben sind die Gallertkerne der Zwischenwirbelscheiben.
Zugegeben, darauf können sich nicht alle Embryologen einigen – manche meinen, die Chorda werde ganz abgebaut –, aber es hätte einen perversen Reiz. Denn es sind die Gallertkerne, die etwa bei einem Bandscheibenvorfall auf die Nerven drücken. Diese Schmerzen, könnte man sagen, erinnern den Patienten daran, dass er ein Chordatier ist. So blickt er leidend tief in die Geschichte seines Stammes . . .
Denn alle Wirbeltiere – Säugetiere, Vögel, Reptilien, Amphibien, Fische, nicht zu vergessen die blutsaugenden Neunaugen – zählen, auch wenn sie als Erwachsene gar keine Chorda mehr haben, zum Stamm der Chordatiere, den sie mit geschätzten 55.000 Arten dominieren. Neben ihnen gibt es noch 1600 Arten der Manteltiere – die nur als frei schwimmende Larven eine Chorda haben, die sie dann abbauen, um sich am Meeresgrund zur Ruhe zu setzen – und 30 Arten von Schädellosen, alles Lanzettfischchen, schwer zu unterscheiden, alle von simpler Bauart.
Das Lanzettfischchen sei „eine lebende, schwimmende (nun ja, eigentlich meist im Sand steckende) Lehrbuch-Schemazeichnung“, schrieb Richard Dawkins in „The Ancestor’s Tale“: „Es präsentiert elegant die Merkmale, die es zum Chordatier machen.“Weil es gar so archetypisch ist, nützte Dawkins sein Kapitel über das Lanzettfischchen, um zu betonen, was Biologen seit Darwin gern betonen: Es ge- hört sich nicht, von niedrigeren und höheren Lebewesen zu sprechen. Und: Ein heute, etwa im Mittelmeer, lebendes Lanzettfischchen und ein heute, etwa am Mittelmeer, lebender Mensch sind von ihrem letzten gemeinsamen Vorfahren gleich weit entfernt. An Jahren zumindest; dass in den beiden Ästen gleich viele Generationen lebten, ist unwahrscheinlich. In erster Näherung darf man aber doch sagen: Wenn der gemeinsame Ahn mein Ururururusw.-Großvater (mit geschätzten 270 Millionen Mal der Silbe „ur“) war, dann ist das heutige Lanzettfischchen mein Cousin 270-millionsten Grades. Oder meine Cousine, auch schon egal. Sie/er sieht mich weder verwandt noch unverwandt an, da er/sie kein Auge, sondern nur einen lichtempfindlichen Fleck hat; er/sie hat kein Hirn, um das zu verstehen; ich kann es nicht fassen.
Wann hat unser gemeinsamer Ahn gelebt? Vor 560 Millionen Jahren, schätzt Dawkins, vor 550 Millionen, schreiben Zoologen um Ferdinand Marletaz´ (University of Oxford) in ihrem jüngst in Nature (21. 11.) erschienenen Artikel über „Amphioxus functional genomics and the origins of vertebrate gene regulation“. Jedenfalls im Ediacarium, dem Zeitalter vor dem Kambrium, von dem viele Biologen sagen, dass in ihm alle Tierstämme wie in einer Explosion entstanden seien. Primitiv? Was wissen wir sonst über den letzten gemeinsamen Vorfahren? Er sah eher aus wie ein Lanzettfischchen als wie ein Mensch, das ist klar. Und, ob das nun als biologisch korrekt gilt oder nicht: Er war primitiver als alle Wirbeltiere. Es ist unheimlich, sich vorzustellen, dass sich in der langen Ahnenreihe des Lanzettfischchens seit ihm so wenig getan hat und in unserer Ahnenreihe so viel: Entwicklung des Skeletts, des Gehirns, Weg aufs Land, Abstieg von den Bäumen und so weiter.
Natürlich auch auf der Ebene der Gene. Obwohl es auf den ersten Blick gar nicht so aussieht. Sein Genom besteht aus 520 Millionen Basen, circa 21.000 Gene finden sich darin. Menschen haben zwar deutlich mehr Basen im Genom (über 3000 Millionen), aber auch nur 23.000 Gene. Wie gibt es das?
Diese Frage prägt auch die NatureArbeit. „Erstens haben wir festgestellt, dass die Genregulation der Wirbeltiere viel komplexer ist als die der Wirbellosen“, sagt ein beteiligter Forscher: „Der zweite Unterschied ist, dass wir Kopien von Genen haben, die ursprünglich nur sehr generellen Funktionen dien- ten, die sich aber bei den Wirbeltieren auf viel spezifischere Funktionen spezialisiert haben, besonders im Gehirn.“
Möglich wurde diese Spezialisierung durch zwei Verdopplungen des gesamten Genoms, die beide auf dem Weg vom Ur-Chordatier – dem letzten gemeinsamen Vorfahren der Schädellosen der und Wirbeltiere – zum UrWirbeltier passiert sein sollen. Solche Verdopplungen bringen zunächst gewaltige Redundanz: wie ein Rezept, in dem jeder Satz zweimal drinsteht. Dann aber beginnen die Kräfte der Evolution, Mutation und Selektion, ihr Werk – und sie können freier walten, da ja, wenn eines von zwei ursprünglich gleichen Genen seine Funktion verliert
Bandscheibenschmerzen erinnern uns daran, dass wir einst eine Chorda hatten. Zwei Verdopplungen des Genoms erlaubten den Wirbeltieren Spezialisierung.
oder ändert, noch immer das andere intakt ist. So können sich einerseits Gene besser spezialisieren (z. B. nur in bestimmten Geweben aktiv werden), andererseits kann die DNA von Genen, die ihren orthodoxen Sinn (als Bauanleitung für ein Protein) verloren haben, für regulative Zwecke umgewidmet werden. So ist über die Jahrmillionen der genetische Apparat entstanden, der im Lauf der Embryonalentwicklung an einem Ende der Chorda ein Hirn aufbaut – und dazu zwei Augen, mit denen wir jetzt den Schädellosen anschauen können, und einen Mund, mit dem wir sagen können: Hallo, du altes Chordatier, ich bin auch eines. Die vielzelligen Tiere teilen sich in die Schwämme und die Gewebetiere, diese in die Nesseltiere (z. B. Quallen), Rippenquallen und Bilateria. Die Bilateria – Tiere mit Links-rechtsSymmetrie – spalteten sich vor circa 590 Millionen Jahren in zwei große Gruppen. Erstens die Urmünder, zu denen z. B. die Gliederfüßer (Insekten, Krebse, Spinnen) und die Weichtiere (Schnecken, Muscheln, Tintenfische) zählen. Zweitens die Neumünder. Die Neumünder, bei denen aus dem Urmund der After wurde/wird, enthalten vor allem die Stachelhäuter und die Chordatiere.