Die Presse am Sonntag

Die lange Suche nach der Familie

Über das Rote Kreuz können Flüchtling­e ihre Angehörige­n oder Eltern ihre radikalisi­erten Kinder suchen.

- DUÖ

Wenn bei Flucht und Vertreibun­g Familien auseinande­rgerissen werden, wo und wie beginnt die Suche nach den Angehörige­n? So forschte eine afghanisch­e Familie in Österreich lang nach ihrer Tochter, von der sie auf dem Fluchtweg getrennt worden war. Zwei Jahre später tauchte das Mädchen in Indonesien auf. Oder der Fall einer syrischen Familie: Angehörige konnten in der Schweiz und in der Türkei lokalisier­t werden – mithilfe des Roten Kreuzes.

„Trace the Face“heißt das Internetfo­rmat, das das Rote Kreuz gemeinsam mit dem Roten Halbmond vor etwa drei Jahren – nach Beginn der großen Fluchtbewe­gung – entwickelt hat. Angehörige können hier ihre eigenen Passbilder hochladen, aus Datenschut­zgründen ist daher nur das Foto des Suchenden ersichtlic­h. „Wir sind wirklich die letzte Institutio­n, an die sich die Betroffene­n wenden“, sagt Claire SchocherDö­ring, Leiterin des Suchdienst­es beim Österreich­ischen Roten Kreuz. Bis die Familien zum Roten Kreuz kommen, haben sie – und das in Zeiten von WhatsApp und Facebook – meist eigenmächt­ig schon alles versucht. Dafür, dass es kaum Anhaltspun­kte für die Suche gebe, sei die bisherige Quote von 128 positiven Fällen durchaus bemerkensw­ert, sagt Schocher-Döring. Aus Österreich suchen derzeit mehr als 840 Personen insgesamt etwa 1240 Vermisste. Besonders betroffen sind Personen aus Somalia, Afghanista­n, Iran, Irak und Syrien. Wenn ich nicht weiß, was mit meiner Familie passiert ist, dann bin ich wie in einer Zwischenwe­lt“, sagt Schocher-Döring. „Schule, Integratio­n, das geht alles schwer oder gar nicht.“ Zaghafte Weitergabe. An den Suchdienst des Roten Kreuzes wenden sich auch die Angehörige­n jener, die sich terroristi­schen Gruppen wie dem sogenannte­n Islamische­n Staat (IS) angeschlos­sen haben. „Hier geht es darum, den Familienko­ntakt herzustell­en“, sagt Schocher-Döring. „Das ist ein Grundrecht. Selbst, wenn man nicht verstehen kann, warum jemand in diese Länder geht, haben sie das Recht, mit der Familie zu sprechen. Es gibt keine Sippenhaft­ung.“

Oftmals würden diese Familien nur zaghaft hilfreiche Informatio­nen herausgebe­n, anderersei­ts hätten die Gesuchten schon Nachrichte­n verschickt, die impliziere­n, dass sie sich im Kriegsgebi­et in Haft befinden. „Wir hatten auch Fälle, bei denen die Personen in Syrien vermutet wurden, sie sind dann aber im Irak aufgetauch­t.“

Die Suche über das Rote Kreuz dauert in den meisten Fällen etwa ein Jahr. Man habe allerdings keine Deadline, sagt die Leiterin. Vergangene­s Jahr luden Betroffene in und aus Europa insgesamt 8700 Fotos auf der Plattform hoch. Beim Suchdienst allgemein machen die oben genannten Länder und Fälle zwei Drittel der Anfragen aus, ein weiteres Drittel ist die Schicksals­klärung während des Zweiten Weltkriege­s. Hier melden sich nach wie vor Menschen, die über den Verbleib ihrer Verwandten nachforsch­en wollen.

Bei allen gesuchten Personen gilt im Übrigen: Sie haben das Recht, nicht gefunden zu werden – und können die Kontaktauf­nahme verweigern.

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