An einem Faden
Sie schützen uns, sie schmücken uns, aber gewürdigt werden sie wenig, die Fasern und Tücher. Ein Buch schafft sorgsam gewobene Abhilfe.
Klotho spann den Faden, Lachesis maß seine Länge, Atropos schnitt ihn ab. Die Metapher ist alt, sie war weit verbreitet – bei den Griechen entschieden die Moiren über die Dauer des Lebens, bei den Römern die Parzen, im Norden die Nornen –, und sie ist nicht nur Metapher: Unser ganzes Leben hängt an Fäden bzw. daraus gewobenen Tüchern, sie schützen uns, sie schmücken uns, ihre Verfertigung ist auch in die des Redens und Denkens eingegangen – „Text“und „Textil“kommen vom gleichen „textere“gleich „weben“–, bisweilen in wunderlichster Weise: „Man meint, dass die Frauen zu den Entdeckungen und Erfindungen der Kulturgeschichte wenig Beiträge geleistet haben, aber vielleicht haben sie doch eine Technik erfunden, die des Flechtens und Webens.“
Das konzedierte Sigmund Freud 1933 in einer Vorlesung über „Weiblichkeit“, er sah hinter dieser Leistung ein „unbewusstes Motiv“, das des „Penismangels“: Um das Fehlende zu kaschieren, hätten Frauen an der Natur angeknüpft und ihre Schamhaare, die „nur miteinander verfilzt waren“, miteinander verflochten, später hätten sie dieses Verfahren auf andere Fasern ausgedehnt („Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“, Kap. 5, 33. Vorl.). „Wenn Sie mir diesen Einfall als eine fixe Idee anrechnen“, milderte er abschließend, „bin ich natürlich wehrlos.“
Wie viele Köpfe geschüttelt wurden unter den wohl Gekleideten im wohl gewärmten Wiener Vortragssaal, ist nicht überliefert, und dass Faden und Tuch von Frauen ersonnen wurden, liegt ja durchaus nahe. Aber diese werden andere Sorgen gehabt haben: Die ersten Spuren von Fäden fanden sich in einer Höhle im eisigen Kaukasus in Georgien – vor 28.000 Jahren wurde dort Flachs zu Leinen gesponnen, Motten fanden sich auch bald ein –, die ersten von Tuch später in der Kultur, die ihre Toten damit bekleidete, und wie: Eine „neatly wrapped mummy“, habe er gefunden, berichtete Howard Carter 1922 stolz, aber mit leicht verärgertem Unterton: Acht Tage habe es ge- braucht, bis die 16 Lagen Leinen weg waren von König Tut (dessen Gebeine Carter dann kurz und klein schlug, um an die Geschmeide zu kommen).
Viel später wurde das Entkleiden von Mumien zur öffentlichen Lustbarkeit in Varietes´ und Theatern – in England machte sich im 19. Jahrhundert ein Thomas „Mummy“Pettegreen damit einen Namen –, bisweilen kam auch ein wenig Seide zutage. In diese hatte sich zu Lebzeiten schon Kleopatra gehüllt (und sich wegen Dekadenz bzw. „durchscheinenden Brüsten“den Zorn des römischen Dichters und Historikers Lukan zugezogen). Aber Seide gedieh nicht in Ägypten, das Land war ideal für den Anbau von Flachs bzw. daraus gesponnenes Leinen. Seide brauchte Bäume, ganz besondere, die der Maulbeere. Unter einem saß vor Jahrtausenden Xiling, die Frau des Gelben Kaisers, bei einer Tasse Tee. In diese fiel von weit oben etwas Weißes mit fester Konsistenz, es weichte auf, es war ein Kokon einer Seidenraupe. Seidenland China. Solche Entstehungsmythen gab es viele in dem Land, das die Römer Serica nannten – „Sericum“hieß Seide –, die ältesten bekannten Seidenproteine in China werden auf 8500 Jahre datiert. Dann blieb die Produktion über Jahrtausende ein wohl gehütetes – und mit drastischen Strafen geschütztes – Monopol, die Produkte allerdings gingen früh in den Export, und weit: 834 war Seide in Norwegen, 1099 in England.
Herbeigeschafft wurde sie von Wikingern, die mit ihren Langbooten nicht nur Angst und Schrecken verbreiteten, sondern auch Fernhandel trieben, sie fuhren etwa Flüsse in Russland hinauf und kreuzten dabei Seidenstraßen (es gab nicht nur eine). Natürlich fuhren sie nicht, in der ersten Zeit ruderten sie. Und dann erfanden sie Segel, mit denen sie bis nach Amerika kamen – 500 Jahre vor Kolumbus –, sie waren aus einem ganz besonderen Tuch: Wolle.
Wolle? Auch durch dichteste Pullover pfeift der Wind, und wie lang brauchen sie nach dem Waschen zum Trocknen! Ja, aber: Schafe an Küsten des Nordens schützen ihr Fell mit Lanolin vor Nässe, und die Wikingerinnen ersannen viel, um diesen Effekt zu verstärken und die Poren zu stopfen – mit Ocker –, auf dass ihre Männer rasch weit kamen. Etwa nach Lindisfarne an der Nordostküste Englands, dort griffen sie 793 mit einem völlig überraschenden Überfall auf ein Kloster erstmals in die Weltgeschichte ein. Das war der Auftakt zu vielen Gemetzeln, die durch die Wolle ermöglicht wurden – und vielleicht der Wolle wegen durchgeführt wurden: Die Segel brauchten enorme Mengen – zusammengerechnet für alle Schiffe: von zwei Millionen Schafen –, und sie waren vor allem in England zu holen.
Dort war im Mittelalter das Zentrum der Schafzucht und Wollverarbeitung: Robin Hood hüllte sich in ein Jäckchen aus „Lincoln-Green“– Lincoln war Drehscheibe des Wollhandels –, und als das Lösegeld für Richard Löwenherz aufgetrieben werden musste, wurde es eingetrieben, mit Steuern auf Wolle, das traf vor allem die Armen, die in Heimarbeit spannen und woben. Viel später kam ein noch härterer Schlag, der der industriellen Revolution: Bei ihr denkt man an Kohle und Stahl, das Flaggschiff hieß aber Spinning Jenny und war die dampfmaschinengetriebene Spinnmaschine.
Mumien wurden in Leinen gehüllt. Später enthüllte man sie zur Belustigung in Variet´es. Die Segel, mit denen die Wikinger bis nach Amerika kamen, waren aus Wolle.
Da ging es nicht nur um Wolle, sondern auch um die vierte Faser im Bunde der Natur: Baumwolle. Verarbeitet wurde sie in England, gepflanzt und gepflückt in den USA, von über acht Millionen Sklaven, für die in Afrika oft mit bunten Tüchern aus Baumwolle bezahlt wurde. So unansehnlich ist die Geschichte der Gewebe auch, Kassia St. Clair hat sie in einem Buch mit leichter Hand sorgsam verwoben, in 13 Kapiteln, von den Anfängen bis zur Gegenwart, von den Lichtseiten bis zu den düstersten, etwa dem der Produktion der ersten Kunstfaser, Rayon: Sie war aus Cellulose, die mit harter Chemie aus Pflanzen extrahiert wurde, an der in deutschen Fabriken KZ-Insassinnen erkrankt sind. Oder dem der heutigen Textilienproduktion in den Armenhäusern der Erde, in Bangladesch etwa, wo am 24. April 2013 beim Einsturz eines Fabriksgebäudes 1135 Menschen getötet wurden, Frauen meist und Kinder, die sie bei sich hatten. An den Moiren, Parzen und Nornen lag das Abschneiden dieser Fäden nicht.
Kassia St. Clair, „The Thread“, John Murray, 2018. Golden