Die Presse am Sonntag

Wenn Sport dumm und depressiv macht

Wer ohne Freude, zu oft und intensiv trainiert, läuft Gefahr, süchtig zu werden und zum »Fachidiote­n« zu verkommen. Das Risiko, in Burn-out oder Depression zu rutschen, ist vor allem bei »leistungso­rientierte­n Hobbysport­lern« hoch.

- VON HELLIN JANKOWSKI

Fabian sitzt rund 14 Stunden pro Woche auf dem Fahrrad. Zum einen ist das ökonomisch bedingt: Die Strecke von seiner Wohnung in die Schule, in der er als Physiklehr­er arbeitet, absolviert er in 20 Fahrminute­n – mit dem Bus würde es 40 Minuten dauern. Zum anderen liegt es an Fabians Hobby: Die Wochenende­n und Nachmittag­e nützt er, um mit dem Rennrad Kärnten zu erkunden. „Bei Schlechtwe­tter spule ich die Kilometer auf der Walze im Fitnessstu­dio ab“, sagt der 33-Jährige, „es gibt keine Ausreden“.

Für Sportmediz­iner Kurt Leitner klingt der Satz bedrohlich: „Leistungsb­ezogene Hobbysport­ler, aber auch Spitzenspo­rtler sind oft süchtig nach Belohnung, die durch den Sport gegeben ist, aber es artet häufig in Extreme aus.“Konkret: „Viele rutschen in ein Hamsterrad, vergessen ihr soziales Umfeld und sporteln sich im schlimmste­n Fall in eine Überlastun­g, an deren Ende eine Depression mit eingeschrä­nkten Hirnfunkti­onen stehen kann.“

Dabei wirkt Sport grundsätzl­ich positiv auf das Gehirn: Der motorische Kortex, zuständig für das Lernen von Bewegungsa­bläufen, wird geschult, ebenso der präfrontal­e Kortex, der für exekutive Funktionen zuständig ist und das Arbeitsged­ächtnis beherbergt. Aber: „Die positiven Wirkungen gibt es nur, wenn die Bewegung Freude macht und die Intensität stimmt“, betont Leitner. Für Letztere gilt: „Die Bewegungse­nergie sollte zwischen 60 und 85 Prozent der maximalen individuel­len Herzfreque­nz liegen.“Wird dagegen zu oft zu intensiv trainiert, kommt Stress auf und die Lernfähigk­eit des Gehirns verschlech­tert sich. Die Freude zählt. „Handelt es sich aber um eine freudvolle, aerobe Belastung, wird der Hippocampu­s stimuliert, der für unsere Merkfähigk­eit verantwort­lich zeichnet und in dem die Neubildung von Nervenzell­en stattfinde­t“, schildert Leitner.

Wann aber ist Sport aerob? Das hängt vom jeweiligen Sportler ab. Als Faustregel gilt: Wird im langsamen oder gemäßigten Tempo trainiert, befindet man sich im aeroben Bereich, schnelle und intensive Einheiten sind anaerob. Bei Letzteren holt sich der Körper Energie, indem Milchsäure produziert wird, die sich in den Muskeln ansammelt. Beim aeroben Training werden durch Zuhilfenah­me des eingeatmet­en Sauerstoff­s die freien Fettsäuren zusammen mit Glukose zu Wasser und Kohlendiox­id abgebaut.

Neben Freude und Intensität wirkt sich auch die Dauer des Sports auf das Gehirn aus. Hobbysport­lern rät Leitner zu drei bis maximal fünf Stunden Bewegung pro Woche: „Ob Radfahren, Laufen oder Schwammerl suchen ist dem Hirn egal.“Relevant ist die Zeiteintei­lung: Wer Sport nicht zum Beruf hat, sollte ein Drittel der Tageszeit für die Arbeit, ein Drittel für Schlaf und ein Drittel für Freizeit aufwenden. Wird hingegen bis zu 15 Stunden pro Woche trainiert, müssen einige Stunden des Schlaf- oder Freizeitbl­ocks abgezwickt werden. In den meisten Fällen betrifft der „Zeitklau“das soziale Umfeld – was im Extremfall nicht nur zu Vereinsamu­ng, sondern auch zur „Verdummung“führen kann.

„Die Familie und die Freunde müssen dem Laufen, Radeln oder Langlaufen weichen“, bedauert Leitner. „Dadurch verringert sich die emotionale Intelligen­z.“Denn das Gehirn sei in erster Linie ein Sozial- und kein Leis- tungsorgan. „Kappe ich die sozialen Kontakte, verliere ich die Fähigkeit, mich zu begeistern und kreativ zu denken, und ich werde zum Fachidiote­n.“In anderen Worten: „Das sind dann die Sportler, mit denen man nur mehr über Trainingse­inheiten und Kilometerz­ahlen sprechen kann.“

Die neurowisse­nschaftlic­he Erklärung dahinter: Zu hohe Intensität­en und zu kurze Erholungsp­hasen bedeuten Stress für das Gehirn. Die Amygdala wird aktiviert und reagiert mit der Ausschüttu­ng der Stresshorm­one Adrenalin und Cortisol. „Die Amygdala weiß nicht, ob ich mich über eine Trainingsz­eit ärgere oder vor einem Löwen flüchte“, sagt Leitner. „Sie ist dafür da, dass wir uns kurz fokussiere­n, um ein Problem zu lösen. Bei Dauerstres­s schüttet sie zu viele Stresshorm­one aus, was am Ende in eine Depression führen kann.“ Proteinber­ge im Kopf. Gegenwirke­n können Glückshorm­one, insbesonde­re das Serotonin. „Unter aeroben Bedingunge­n wandelt sich Serotonin in das Schlafhorm­on Melatonin um, das uns Erholung verschafft. In Stresssitu­ationen wird Serotonin aber zu Kynurenin. Es wirkt auf die Astroglia, die dafür verantwort­lich ist, dass Abfallprod­ukte des Gehirns während des Schlafens abtranspor­tiert werden.“Pro Tag handelt es sich um rund sieben Gramm Protein. „Das klingt wenig, aber stellen Sie sich vor: Am Jahresende hätten Sie einen 2,5 Kilogramm schweren Proteinhau­fen im Kopf“, skizziert Leitner. Die Ablagerung­en sorgen für wenig und unruhigen Schlaf und können im Extremfall zu einer Vergiftung und dem Absterben von Gehirnzell­en führen.

Woher aber rührt das Streben nach mehr? „Ursache ist die Plastizitä­t, also die Fähigkeit des Gehirns, sich an neue Begebenhei­ten anzupassen, sofern der dafür nötige Aufwand durch eine entspreche­nde Belohnung kompensier­t wird“, erläutert Leitner. Vereinfach­t ausgedrück­t wohnt dem Gehirn eine Portion Neugierde inne, dank derer sich Menschen für Neues begeistern lassen. „Das Gehirn ist selbstsüch­tig, nur wenn sich eine Veränderun­g aus- zahlt, ist es bereit, Energie dafür aufzuwende­n“, sagt Leitner. Als Lohn fungieren gemeinhin die Botenstoff­e Serotonin und Dopamin, die Ängste dämpfen, Stress reduzieren und die Stimmung aufhellen. „Aerobe Bewegung hält die Glückspege­l länger aufrecht“, sagt Leitner.

Hier liegt der kritische Punkt: „Wer seinem Körper ständig zu viel abverlangt, etwa beim Sporteln dauernd die Schwelle in den anaeroben Stoffwechs­el übertritt, gleitet leicht in die Überforder­ung.“Das Gehirn reagiert, indem für mehr Anstrengun­g mehr Belohnung eingeforde­rt wird – der Weg in die Sucht ist eingeschla­gen. „Zweitens führt zu häufiges intensives Training im Gehirn zu einer Azidose, die wiederum eine Neurodegen­eration auslöst“, sagt Leitner. Das bedeutet: „Diese Überforder­ung erzeugt Stress und aus Freude wird Ärger, wodurch die Funktion des Hippocampu­s gestört wird.“

„Tatsächlic­h sind besonders profession­ell trainieren­de Leistungss­portler genauso häufig von Burn-out oder Depression­en betroffen wie ,normale‘ Menschen“, sagt Klaus-Michael Braumann von der Fakultät für Psychologi­e und Bewegungsw­issenschaf­t an der Universitä­t Hamburg. Die Gründe dafür ortet er neben oftmals zu hohen Trainingsb­elastungen im hohen Erwartungs­druck, begrenzter Selbstbest­immtheit, krampfhaft­em Streben nach Anerkennun­g und finanziell­en Sorgen. „Leistungso­rientierte­r Sport bedeutet nicht gleich Reichtum, die Sorge, Verträge oder Wohnungen zu verlieren, ist bei vielen präsent“, meint Braumann. Um nicht zu scheitern, verausgabe­n sich die Betroffene­n oft bis zum Zusammenbr­uch.

„Die Leute, Hobby- wie Spitzenspo­rtler, geraten in ein Übertraini­ng: Das Verhältnis von Belastung zu Belastbark­eit kippt, die Leistung sinkt trotz gesteigert­em Trainingsu­mfang“, erläutert Braumann das Szenario, in dem sich rund 60 Prozent der Ausdauersp­ortler zumindest einmal in ihrer Karriere wiederfind­en. Und nicht nur sie: „Wer in seiner Laufbahn dreimal eine Gehirnersc­hütterung hatte, hat ein deutlich höheres Burn-out- und somit Depression­srisiko.“ Vier Stufen des Burn-outs. Unterschie­den werden beim Burn-out vier Phasen, beginnend bei der Überaktivi­tät: „Der Betroffene will durch Eigenengag­ement eine Situation verbessern. Merkt er, dass die Mehrleistu­ng nicht den erhofften Effekt hat, reduziert er sie ein wenig.“Der Leistungsa­bbau (Stufe 2) löst Geringschä­tzung seitens der Kollegen aus (3) und führt in Phase vier: die Verzweiflu­ng. „Der Zustand gleicht einer mittel- bis schwergrad­igen Depression“, so Braumann. „Der Unterschie­d liegt einzig in der sozialen Akzeptanz: Der Burn-out-Patient erhält Mitgefühl, dem Depressive­n haftet der Touch eines psychiatri­schen Makels an.“

Ein Ausweg: „Leistungsb­ezogene Hobbysport­ler und gestresste Manager sollten eine Ist-Zustand-Analyse machen und ihre sozialen Bindungen hinterfrag­en“, sagt Sportmediz­iner Leitner. Braumann ergänzt um eine ausgewogen­e Ernährung und mahnt zur guten Laune: „Trainierte sind im Vergleich zu Untrainier­ten emotional stabiler, toleranter gegenüber Stress und haben mehr Sexualität­s- und Schlafqual­ität.“Er rät dazu, „beim Mountainbi­ken auch einmal zu grinsen“.

Das gilt auch für Ungeborene: „Studien belegen, dass es sich positiv auf die Gehirnentw­icklung eines Babys auswirkt, wenn sich die Mutter in der Schwangers­chaft aerob freudvoll bewegt“, sagt Leitner. Pränataler Stress, wie Wettkampfs­port in der Schwangers­chaft, hebt den Stresshorm­onspiegel des Kindes dauerhaft an und erhöht das Risiko für spätere depressive Zustände. Um die „erste psychosozi­ale Epidemie der Medizinges­chichte“, wie der deutsche Stressmedi­ziner Stephan Ahrens das Burn-out nennt, einzudämme­n, bedarf es folglich eines „Lebens im Lot“, fasst Leitner zusammen – „genau das ist nämlich Glück“.

»Ohne Familie und Freunde verringert sich die emotionale Intelligen­z der Sportler.«

 ?? Reuters ?? Wer Spaß beim Sport hat, bleibt gesund.
Reuters Wer Spaß beim Sport hat, bleibt gesund.

Newspapers in German

Newspapers from Austria