»Der ungefilterte Blick verstört«
Ihre Geschichte klingt wie ein Film und ein Film ist daraus schlussendlich auch geworden. M.I.A. ist das Kreativgenie hinter dem Welthit »Paper Panes«. Die Doku »Matangi/Maya/M.I.A.« präsentiert nun das Leben einer ungemein facettenreichen Künstlerpersönl
Die ersten elf Jahre waren geprägt vom Bürgerkrieg in Sri Lanka – Mathangi Arulpragasams Vater war tamilischer Aktivist und Gründer einer Rebellenorganisation. Die Situation wurde immer gefährlicher, bis schließlich Mathangis Mutter mit den Kindern erst nach Indien und schließlich nach London flüchtete. Dort wuchs Mathangi, genannt Maya, in ärmlichen Verhältnissen auf – und entdeckte bald ihre künstlerische Ader. Sie studierte Film, arbeitete als Designerin und GraffitiKünstlerin und kam dann über ihre Arbeit mit der Band Elastica und der Musikerin Peaches zur Musik. 2008 wurde ihre Single „Paper Planes“zum Welthit, und Maya – die sich mittlerweile M.I.A. nennt – zum Star. Sie performte unter anderem gemeinsam mit Madonna und Nicki Minaj bei der Superbowl-Halbzeitshow, wo sie prompt mit einem ausgestreckten Mittelfinger für einen Skandal sorgte. Der Dokumentarfilmer Steven Loveridge widmete ihr nun die Doku „Matangi/Mia/M.I.A.“. Der Film wurde heuer in Sundance mit dem Spezialpreis der Jury als beste Doku ausgezeichnet. Steven Loveridges Film „Matangi/Maya/ M.I.A.“zeigt Sie als kontroversielle und auch durchaus umstrittene Persönlichkeit. Sehen Sie sich selbst auch so?
Ich bin jemand, der reagiert – und auch auf Reaktionen reagiert. Und ich gehe immer von einem Extrem ins andere. Als ich in L. A. gearbeitet habe, wurde ich angefeindet, weil ich angeblich mit meinem Reichtum so oberflächlich umging. Und als ich dann die USA verließ, weil ich dieses Image nicht mehr wollte, haben sie mich dafür gehasst, dass ich keine große berühmte Marke sein wollte, die Sportswear und Shampoo oder was weiß ich verkauft. Ich werde sowieso immer für das, was ich mache, kritisiert, also bereue ich nichts. Glauben Sie, dass diese Kritik genauso allgegenwärtig wäre, wenn Sie ein männlicher Popstar wären? Würde man dann Ihr politisches Engagement ernster nehmen? Eine interessante Überlegung, aber ich würde es nicht am Geschlecht festmachen. Ich glaube eher, es geht um meinen kulturellen Background – ich bin halt nicht der blitzsaubere weiße Popstar, der super tanzen kann, darüber unglaublich happy ist und immer gern im Mittelpunkt steht. Aber ja, es ist schon auch Sexismus mit im Spiel,
1975
wurde M.I.A. als Mathangi Arulpragasam in London als Tochter einer tamilischen Familie geboren, kurz darauf zog die Familie nach Sri Lanka, wo sich ihr Vater Arul im Bürgerkrieg engagierte.
1986
flüchtete sie mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter zurück nach London. Dort schaffte sie es in die prestigeträchtige Central-Saint-MartinsKunstuni.
2003
nahm sie ein Demotape auf, das zum Clubhit wurde. 2005 erschien ihr erstes Album „Arular“, 2008 der Welthit „Paper Planes“. Ihr Album AIM erschien 2016. klar. Weibliche Popstars müssen heute total fotogen und jederzeit Instagramready sein. Eine ständige Quelle für visuellen Online-Content. Gerade im Film sieht man auch die nicht Instagram-taugliche, ungeschminkte Seite von Ihnen. Ja, und das finde ich großartig, weil man solche Sachen heutzutage immer weniger zu sehen bekommt. Einen ungeschminkten Popstar, das finden viele Menschen regelrecht unangenehm. Der ungefilterte Blick verstört. Ich finde es wirklich faszinierend: Auch wenn man ganz politische Songs macht wie ich, in denen es um Krieg und Tod geht, erwarten die Leute von dir trotzdem, dass du dabei topgestylt bist und super aussiehst. Der Popstar als durchdesigntes Produkt also. Ja, genau. Aber dieses Image ist auf die Dauer recht schwer aufrechtzuerhalten. Deshalb bin ich ziemlich sicher, dass es in absehbarer Zukunft computergenerierte AI-Versionen von Popstars geben wird. Die sind immer bis ins kleinste Detail perfekt, und können noch dazu überall auf der Welt gleichzeitig sein. Kein Jetlag mehr, der einen mies aussehen lässt. In diese Richtung bewegen wir uns meiner Meinung nach: Auf der Suche nach einer Perfektion, die ein Mensch aber nie erreichen kann. „Matangi/Maya/M.I.A.“ist nicht nur ein Künstlerinnenporträt, sondern auch die Geschichte eines Flüchtlingskindes, das sich in der neuen Heimat zurechtfinden muss. Ja, genau, und wie er die erzählt, finde ich großartig. Normalerweise geht es ja in Flüchtlingsgeschichten um eine dramatische Flucht und eine schwierige Reise – und wenn die Hauptperson dann endlich irgendeinen schlecht bezahlten Job gefunden hat, ist der Film aus – tadaa, Happy End! Bei uns aber sagt das Flüchtlingskind ganz selbstbewusst: ,Ich hol’ mir den besten Job der Welt, ich werde Popstar‘. Und ist es für Sie immer noch der beste Job der Welt? Ich weiß nicht recht. Auf jeden Fall mache ich ihn nicht besonders gut.