Die Presse am Sonntag

Karlsson und Luthers Geist

Über Lindgren-Sätze, die in Erinnerung bleiben.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

den die Filmszenen, in denen Astrid den Kleinen in Kopenhagen besucht, der in ihr nur eine Fremde sieht; noch mehr die erste Zeit mit ihm allein in der kleinen Wohnung in Stockholm – der Zweijährig­e will nur zurück zu seiner dänischen „Mama“. . .

Mit Alba August hat der Film eine wunderbare Hauptdarst­ellerin. Sie verbindet kindliche Keckheit und frühe Reife. Berührend herausgear­beitet auch die Beziehung zur Mutter, die zumindest anfangs rigider ist als der Vater, sehr vom Glauben bestimmt. Sie will aber nur das Beste für Astrid: Diese soll keinen Mann heiraten, den sie nicht liebt. Sie soll ganz neu anfangen – und ihr Kind vergessen. Mio, das Pflegekind. „Astrid“überzeugt als ermutigend­e weibliche Entwicklun­gsgeschich­te – und als Darstellun­g eines Schicksals, das lange Zeit auch in Österreich alltäglich war: die Trennung uneheliche­r Kinder von ihren Eltern. Hilft der Film auch, um Lindgrens Kinderbüch­er besser zu verstehen? Man müsse vom „tiefen Schmerz“der jungen Mutter wissen, meinte in den 1970er-Jahren Lindgrens Biografin, Margareta Strömstedt, die als Erste darüber schrieb. Sie sah diesen Lebensabsc­hnitt als Schlüssel zu einem Werk, in dem es von elternlose­n Kindern wimmle. Mio etwa wächst bei lieblosen Pflegeelte­rn auf, bis er das „Land der Ferne“entdeckt, wo sein Vater König ist und er zum Prinzen wird.

Natürlich könnte ein Werk, in dem so viel Dunkles ist und zugleich so viel Trost und leichtherz­iges Kinderglüc­k, einen biografisc­hen Gegensatz spiegeln: jenen zwischen Lindgrens eigener, als glücklich erlebter Kindheit auf dem Hof im südschwedi­schen Vimmerby und ihrer Trennung von ihrem eigenen Sohn. Derlei psychologi­sche Spekulatio­nen sind reizvoll. Mehr al- lerdings auch nicht: Lindgrens Bücher sprechen für sich selbst.

Und zwar immer noch, selbst wenn einiges gealtert ist. Immer ferner rücken jene Geschichte­n, in denen das Glück, Kind zu sein, in einem ländlichen Alltag der Vorkriegsz­eit ausgemalt wird: die autolose Dorfidylle von „Wir Kinder aus Bullerbü“(erstmals 1947) mit ihrem ständigen „Oh, wie schön war es doch . . .“; die Geschichte­n rund um Michel, den Unfug treibenden Buben auf einem Hof an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhunder­t; selbst die herrlichen Detektivge­schichten rund um „Kalle Blomquist“.

Die richtig aufsässige­n unter Lindgrens frühen Figuren haben besser überlebt: Pippi Langstrump­f (1945 zum ersten Mal erschienen!) und Karlsson vom Dach (zum ersten Mal 1950), das ungehobelt­e Männchen mit Propeller. Aber auch die in einer zeitlosen Sagenwelt spielenden Geschichte­n späterer Jahre fasziniere­n weiterhin: Da ist „Ronja Räubertoch­ter“(1981), dieses „Romeo und Julia“mit Happy End im Räuberwald mit Graugnomen, Wilddruden und rebellisch­er Protagonis­tin. Und natürlich die archaische Fantasywel­t der „Brüder Löwenherz“mit monströsen Ungeheuern und dem Tyrannen Tengil. Das ist die Antithese zum ungetrübte­n Kinderglüc­k von Bullerbü – und doch zugleich Lindgrens größte Utopie: „Die beiden Brüder sind auf ewig zusammen. Für ein Kind ist dies ein glückliche­s Ende“– ja, „der Traum vom Glück“, schrieb sie. „Denn das Einzige, wovor Kinder wirklich Angst haben, ist Einsamkeit.“ „Ja, die Zeit vergeht, und man fängt an, alt zu werden. Im Herbst werde ich zehn Jahre alt, und dann hat man wohl seine besten Tage hinter sich.“Unter allen Lindgren-Büchern bietet „Pippi Langstrump­f“die herrlichst­en Zitate für alle Lebenslage­n. Vor allem, wenn es darum geht, dem Leben Lebenslust abzutrotze­n und sinnlose Regeln zu brechen. Etwa: „Das haben wir noch nie probiert, also geht es sicher gut.“Oder, zu Tommy und Annika: „Am besten, ihr geht jetzt nach Hause. Denn wenn ihr nicht nach Hause geht, könnt ihr ja nicht wiederkomm­en. Und das wäre schade.“Oder, auf die Frage, warum Pippi gerade rückwärtsg­egangen sei: „Leben wir etwa nicht in einem freien Land? Darf man nicht gehen, wie man möchte?“ Luther und der dicke Karlsson. Karlsson vom Dach ist Pippis Verwandter und zugleich ihr Gegenpol. Er ist ebenso ungeniert und anarchisch wie sie, aber im Gegensatz zu Pippi wahnsinnig selbstsüch­tig. Alle Einwände, alle Verzagthei­t und Vorsicht fegt er in der deutschen Übersetzun­g mit dem immer gleichen Satz beiseite: „Ach, das stört doch keinen großen Geist.“Im Original steht hier die schwedisch­e Entsprechu­ng zu einem Luther-Satz (über die Ehe): „Das ist ein weltlich Ding.“Karlsson, der unbekümmer­te Umstürzler, kümmert sich nicht um Kleinigkei­ten wie die Explosion einer mit Brennspiri­tus betriebene­n Spielzeugd­ampfmaschi- ne . . . Eine weitere Karlsson-Devise: „Spaß muss sein, sonst mach ich nicht mit.“ Erste Liebe. Spritzige Sprüche spicken nur Lindgrens frühe Bücher, in ihren späteren Werken sind die markantest­en Sätze nachdenkli­cher Natur. „Ronja Räuberstoc­hter“schildert eine Seelenfreu­ndschaft zwischen Kindern – wie eine erste Liebe: „,Meine Schwester‘, sagte Birk. Ronja hörte es nicht, las es aber von seinen Lippen. Und obwohl keiner von ihnen auch nur ein Wort verstehen konnte, sprachen sie miteinande­r. Über Dinge, die gesagt werden mussten, bevor es zu spät war.“Ronja versprüht in dieser Zeit die Leichtigke­it einer verliebten Heranwachs­enden: „Hier stehe ich und spüre, wie der Winter aus mir herausrinn­t. Bald bin ich so leicht, dass ich fliegen kann.“Und sie fragt sich: „War es nicht sonderbar, dass so wenig so glücklich machen konnte?“

Selbst diese ernste Art von Leichtigke­it fehlt in „Die Brüder Löwenherz“fast völlig. Hier geht es um Krankheit, Tod – und die Notwendigk­eit, in schwierige­n Situatione­n über sich hinauszuwa­chsen und das Richtige zu tun. Lindgren hat diese Notwendigk­eit auf eine wundervoll­e kindgerech­te Formel gebracht. Es gebe Dinge, die man tun müsse, selbst wenn sie gefährlich seien, sagt Jonathan. „Aber warum?“, fragt Krümel. Darauf Jonathan: „Weil man sonst kein Mensch ist, sondern nur ein Häuflein Dreck.“

Kinder hätten keine Angst vor dem Tod, schrieb Lindgren – nur vor der Einsamkeit.

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Oetinger Verlag (6)

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