Karlsson und Luthers Geist
Über Lindgren-Sätze, die in Erinnerung bleiben.
den die Filmszenen, in denen Astrid den Kleinen in Kopenhagen besucht, der in ihr nur eine Fremde sieht; noch mehr die erste Zeit mit ihm allein in der kleinen Wohnung in Stockholm – der Zweijährige will nur zurück zu seiner dänischen „Mama“. . .
Mit Alba August hat der Film eine wunderbare Hauptdarstellerin. Sie verbindet kindliche Keckheit und frühe Reife. Berührend herausgearbeitet auch die Beziehung zur Mutter, die zumindest anfangs rigider ist als der Vater, sehr vom Glauben bestimmt. Sie will aber nur das Beste für Astrid: Diese soll keinen Mann heiraten, den sie nicht liebt. Sie soll ganz neu anfangen – und ihr Kind vergessen. Mio, das Pflegekind. „Astrid“überzeugt als ermutigende weibliche Entwicklungsgeschichte – und als Darstellung eines Schicksals, das lange Zeit auch in Österreich alltäglich war: die Trennung unehelicher Kinder von ihren Eltern. Hilft der Film auch, um Lindgrens Kinderbücher besser zu verstehen? Man müsse vom „tiefen Schmerz“der jungen Mutter wissen, meinte in den 1970er-Jahren Lindgrens Biografin, Margareta Strömstedt, die als Erste darüber schrieb. Sie sah diesen Lebensabschnitt als Schlüssel zu einem Werk, in dem es von elternlosen Kindern wimmle. Mio etwa wächst bei lieblosen Pflegeeltern auf, bis er das „Land der Ferne“entdeckt, wo sein Vater König ist und er zum Prinzen wird.
Natürlich könnte ein Werk, in dem so viel Dunkles ist und zugleich so viel Trost und leichtherziges Kinderglück, einen biografischen Gegensatz spiegeln: jenen zwischen Lindgrens eigener, als glücklich erlebter Kindheit auf dem Hof im südschwedischen Vimmerby und ihrer Trennung von ihrem eigenen Sohn. Derlei psychologische Spekulationen sind reizvoll. Mehr al- lerdings auch nicht: Lindgrens Bücher sprechen für sich selbst.
Und zwar immer noch, selbst wenn einiges gealtert ist. Immer ferner rücken jene Geschichten, in denen das Glück, Kind zu sein, in einem ländlichen Alltag der Vorkriegszeit ausgemalt wird: die autolose Dorfidylle von „Wir Kinder aus Bullerbü“(erstmals 1947) mit ihrem ständigen „Oh, wie schön war es doch . . .“; die Geschichten rund um Michel, den Unfug treibenden Buben auf einem Hof an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert; selbst die herrlichen Detektivgeschichten rund um „Kalle Blomquist“.
Die richtig aufsässigen unter Lindgrens frühen Figuren haben besser überlebt: Pippi Langstrumpf (1945 zum ersten Mal erschienen!) und Karlsson vom Dach (zum ersten Mal 1950), das ungehobelte Männchen mit Propeller. Aber auch die in einer zeitlosen Sagenwelt spielenden Geschichten späterer Jahre faszinieren weiterhin: Da ist „Ronja Räubertochter“(1981), dieses „Romeo und Julia“mit Happy End im Räuberwald mit Graugnomen, Wilddruden und rebellischer Protagonistin. Und natürlich die archaische Fantasywelt der „Brüder Löwenherz“mit monströsen Ungeheuern und dem Tyrannen Tengil. Das ist die Antithese zum ungetrübten Kinderglück von Bullerbü – und doch zugleich Lindgrens größte Utopie: „Die beiden Brüder sind auf ewig zusammen. Für ein Kind ist dies ein glückliches Ende“– ja, „der Traum vom Glück“, schrieb sie. „Denn das Einzige, wovor Kinder wirklich Angst haben, ist Einsamkeit.“ „Ja, die Zeit vergeht, und man fängt an, alt zu werden. Im Herbst werde ich zehn Jahre alt, und dann hat man wohl seine besten Tage hinter sich.“Unter allen Lindgren-Büchern bietet „Pippi Langstrumpf“die herrlichsten Zitate für alle Lebenslagen. Vor allem, wenn es darum geht, dem Leben Lebenslust abzutrotzen und sinnlose Regeln zu brechen. Etwa: „Das haben wir noch nie probiert, also geht es sicher gut.“Oder, zu Tommy und Annika: „Am besten, ihr geht jetzt nach Hause. Denn wenn ihr nicht nach Hause geht, könnt ihr ja nicht wiederkommen. Und das wäre schade.“Oder, auf die Frage, warum Pippi gerade rückwärtsgegangen sei: „Leben wir etwa nicht in einem freien Land? Darf man nicht gehen, wie man möchte?“ Luther und der dicke Karlsson. Karlsson vom Dach ist Pippis Verwandter und zugleich ihr Gegenpol. Er ist ebenso ungeniert und anarchisch wie sie, aber im Gegensatz zu Pippi wahnsinnig selbstsüchtig. Alle Einwände, alle Verzagtheit und Vorsicht fegt er in der deutschen Übersetzung mit dem immer gleichen Satz beiseite: „Ach, das stört doch keinen großen Geist.“Im Original steht hier die schwedische Entsprechung zu einem Luther-Satz (über die Ehe): „Das ist ein weltlich Ding.“Karlsson, der unbekümmerte Umstürzler, kümmert sich nicht um Kleinigkeiten wie die Explosion einer mit Brennspiritus betriebenen Spielzeugdampfmaschi- ne . . . Eine weitere Karlsson-Devise: „Spaß muss sein, sonst mach ich nicht mit.“ Erste Liebe. Spritzige Sprüche spicken nur Lindgrens frühe Bücher, in ihren späteren Werken sind die markantesten Sätze nachdenklicher Natur. „Ronja Räuberstochter“schildert eine Seelenfreundschaft zwischen Kindern – wie eine erste Liebe: „,Meine Schwester‘, sagte Birk. Ronja hörte es nicht, las es aber von seinen Lippen. Und obwohl keiner von ihnen auch nur ein Wort verstehen konnte, sprachen sie miteinander. Über Dinge, die gesagt werden mussten, bevor es zu spät war.“Ronja versprüht in dieser Zeit die Leichtigkeit einer verliebten Heranwachsenden: „Hier stehe ich und spüre, wie der Winter aus mir herausrinnt. Bald bin ich so leicht, dass ich fliegen kann.“Und sie fragt sich: „War es nicht sonderbar, dass so wenig so glücklich machen konnte?“
Selbst diese ernste Art von Leichtigkeit fehlt in „Die Brüder Löwenherz“fast völlig. Hier geht es um Krankheit, Tod – und die Notwendigkeit, in schwierigen Situationen über sich hinauszuwachsen und das Richtige zu tun. Lindgren hat diese Notwendigkeit auf eine wundervolle kindgerechte Formel gebracht. Es gebe Dinge, die man tun müsse, selbst wenn sie gefährlich seien, sagt Jonathan. „Aber warum?“, fragt Krümel. Darauf Jonathan: „Weil man sonst kein Mensch ist, sondern nur ein Häuflein Dreck.“
Kinder hätten keine Angst vor dem Tod, schrieb Lindgren – nur vor der Einsamkeit.