Die Presse am Sonntag

Die Mindestsic­herung ist Ansichtssa­che

Rechnete Kanzler Kurz bei seinem Auftritt in der »ZiB 2« diese Woche auch richtig, als es um das Geld für fünfköpfig­e Familien mit oder ohne Arbeit ging? Seine Argumente für Reformbeda­rf wirkten einleuchte­nd. Doch Kontrolle ist besser.

- VON noRBERT mAYER

Wenn Minister oder gar der Kanzler einen Auftritt in der „ZiB 2“hat, sind die Urteile dazu in den sozialen Medien sekundensc­hnell gefällt. Oft twittern parteieige­ne und opposition­elle Influencer noch während des Interviews, wie supertoll oder unter aller Sau die Performanc­e des Politikers war. Mitten im Auftritt von Innenminis­ter Herbert Kickl zu seiner hausgemach­ten Affäre BVT etwa waren sich die Lager über ihn bereits einig.

Schuldig oder nicht schuldig? Ansichtssa­che. Nach wenigen Halbsätzen. Etwas mehr Zeit nahm sich der rasende Kolumnist Michael Jeannee.´ Seine Emotion wuchs sogar noch. Tags darauf zog er in der „Kronen Zeitung“eine Schleimspu­r der Huldigung für den FPÖ-Politiker. Kickl sei „der beste blaue Fechter“, befand der diensteifr­igste Postler des Boulevards. Sein schönster Satz: „Danke, Herr Minister!“So sind sie, die Knechte der Inseratenk­aiser. Behauptete einer: „Pfui, Kickl, treten Sie endlich zurück, gestehen Sie damit ihre absolute Untauglich­keit!“, Jeannee´ würde garantiert einen kommunisti­schen Putsch herbeischr­eiben.

Gefühlt noch stärker waren die Twitter-Reaktionen auf das „ZiB 2“-Interview von Bundeskanz­ler Sebastian Kurz (ÖVP) zum Thema Mindestsic­herung. Binnen Sekunden war Österreich in zwei unversöhnl­iche Lager gespalten. Mein Eindruck von Kurz: Er hatte überrasche­nd einleuchte­nde Argumente, schürte in sachlicher Art den Sozialneid. Aber das ist eben auch nur eine gefühlsmäß­ige Reaktion, die der Psychologe Daniel Kahneman laut seinem klugen Bestseller „Thinking, Fast And Slow“als schnelles Denken ins Fabelreich der Emotionen einordnen würde. Überlegt ist solch ein Schnellsch­uss nicht. Jedenfalls nicht im Vergleich zur kühlen Kurz-Strategie, der es eben wieder einmal auf das Cover eines internatio­nalen Magazins ge- schafft hat: „Das freundlich­e Gesicht von Europas neuer Rechten“, heißt es in der Überschrif­t zur sechsseiti­gen Titelgesch­ichte Simon Shusters im USamerikan­ischen Magazin „Time“.

Schauen wir aber lieber, wie abgeklärte Kommentato­ren ausgesucht­er heimischer Tageszeitu­ngen, denen wir vertrauen, die Aussagen des Kanzlers zur Mindestsic­herung nach eingehende­r Prüfung bewertet haben. Am genauesten hat Georg Renner in der „Kleinen Zeitung“, dem großen Schwesterb­latt der „Presse“, die Fakten geprüft. Er geht besonders auf folgende Behaup- tung von Kurz ein: Ein Alleinverd­iener bekomme als Verkäufer 1600 Euro netto. Wenn er eine Familie mit drei Kindern habe und die Frau zu Hause bleibe, kommen sie auf 2500 Euro netto im Monat. Eine vergleichb­are Familie von Mindestsic­herungsemp­fängern, in der, so Kurz, „niemand arbeiten geht“, erhalte hingegen 2600 Euro netto. Laut Kalkulatio­n von Kurz soll die erste Familie künftig 2700 Euro netto erhalten, die zweite nur noch 2200 Euro netto. Spielraum. Die „Kleine Zeitung“prüfte das und stellte fest, dass „bei der Rechnung des Bundeskanz­lers einiges unter den Tisch gefallen ist“. Die Länder hätten weiterhin einen Spielraum von bis zu 30 Prozent als Aufschlag zum Basisbetra­g. Würde Wien diesen voll ausnützen, käme die Mindestsic­herungsfam­ilie nach dem Modell der Regierung künftig auch auf 2708,32 Euro statt wie bisher auf 2660,94. Fazit Renners im Leitartike­l: „Man merkt der Neuordnung der Mindestsic­herung an, dass sie vor allem auf niedere Gefühle statt nüchterne Fakten zielt.“Nachsatz: „Das heißt aber nicht, dass sie unnötig ist.“

Auf die wichtige Rolle der Länder geht Johannes Huber in den „Salzburger Nachrichte­n“ein. Die Reform der Bundesregi­erung könne als „Abmahnung gegenüber den Ländern verstanden werden“. Starke Zuwächse bei Leistungen wie der Mindestsic­herung schwächten ihre Position gegenüber dem Bund. „Sozialkost­en machen die Länder erpressbar“, titelt Huber. Ihre Abhängigke­it vom Bund wachse. Dem freundlich­en Gesicht der Bundesregi­erung wird das extrem recht sein.

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ORF/orftvthek BundeskAnz­ler SebAstiAn Kurz (ÖVP) erklärte in der „ZiB 2“die Reformen der Regierung zur Mindestsic­herung.

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