Die Mindestsicherung ist Ansichtssache
Rechnete Kanzler Kurz bei seinem Auftritt in der »ZiB 2« diese Woche auch richtig, als es um das Geld für fünfköpfige Familien mit oder ohne Arbeit ging? Seine Argumente für Reformbedarf wirkten einleuchtend. Doch Kontrolle ist besser.
Wenn Minister oder gar der Kanzler einen Auftritt in der „ZiB 2“hat, sind die Urteile dazu in den sozialen Medien sekundenschnell gefällt. Oft twittern parteieigene und oppositionelle Influencer noch während des Interviews, wie supertoll oder unter aller Sau die Performance des Politikers war. Mitten im Auftritt von Innenminister Herbert Kickl zu seiner hausgemachten Affäre BVT etwa waren sich die Lager über ihn bereits einig.
Schuldig oder nicht schuldig? Ansichtssache. Nach wenigen Halbsätzen. Etwas mehr Zeit nahm sich der rasende Kolumnist Michael Jeannee.´ Seine Emotion wuchs sogar noch. Tags darauf zog er in der „Kronen Zeitung“eine Schleimspur der Huldigung für den FPÖ-Politiker. Kickl sei „der beste blaue Fechter“, befand der diensteifrigste Postler des Boulevards. Sein schönster Satz: „Danke, Herr Minister!“So sind sie, die Knechte der Inseratenkaiser. Behauptete einer: „Pfui, Kickl, treten Sie endlich zurück, gestehen Sie damit ihre absolute Untauglichkeit!“, Jeannee´ würde garantiert einen kommunistischen Putsch herbeischreiben.
Gefühlt noch stärker waren die Twitter-Reaktionen auf das „ZiB 2“-Interview von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) zum Thema Mindestsicherung. Binnen Sekunden war Österreich in zwei unversöhnliche Lager gespalten. Mein Eindruck von Kurz: Er hatte überraschend einleuchtende Argumente, schürte in sachlicher Art den Sozialneid. Aber das ist eben auch nur eine gefühlsmäßige Reaktion, die der Psychologe Daniel Kahneman laut seinem klugen Bestseller „Thinking, Fast And Slow“als schnelles Denken ins Fabelreich der Emotionen einordnen würde. Überlegt ist solch ein Schnellschuss nicht. Jedenfalls nicht im Vergleich zur kühlen Kurz-Strategie, der es eben wieder einmal auf das Cover eines internationalen Magazins ge- schafft hat: „Das freundliche Gesicht von Europas neuer Rechten“, heißt es in der Überschrift zur sechsseitigen Titelgeschichte Simon Shusters im USamerikanischen Magazin „Time“.
Schauen wir aber lieber, wie abgeklärte Kommentatoren ausgesuchter heimischer Tageszeitungen, denen wir vertrauen, die Aussagen des Kanzlers zur Mindestsicherung nach eingehender Prüfung bewertet haben. Am genauesten hat Georg Renner in der „Kleinen Zeitung“, dem großen Schwesterblatt der „Presse“, die Fakten geprüft. Er geht besonders auf folgende Behaup- tung von Kurz ein: Ein Alleinverdiener bekomme als Verkäufer 1600 Euro netto. Wenn er eine Familie mit drei Kindern habe und die Frau zu Hause bleibe, kommen sie auf 2500 Euro netto im Monat. Eine vergleichbare Familie von Mindestsicherungsempfängern, in der, so Kurz, „niemand arbeiten geht“, erhalte hingegen 2600 Euro netto. Laut Kalkulation von Kurz soll die erste Familie künftig 2700 Euro netto erhalten, die zweite nur noch 2200 Euro netto. Spielraum. Die „Kleine Zeitung“prüfte das und stellte fest, dass „bei der Rechnung des Bundeskanzlers einiges unter den Tisch gefallen ist“. Die Länder hätten weiterhin einen Spielraum von bis zu 30 Prozent als Aufschlag zum Basisbetrag. Würde Wien diesen voll ausnützen, käme die Mindestsicherungsfamilie nach dem Modell der Regierung künftig auch auf 2708,32 Euro statt wie bisher auf 2660,94. Fazit Renners im Leitartikel: „Man merkt der Neuordnung der Mindestsicherung an, dass sie vor allem auf niedere Gefühle statt nüchterne Fakten zielt.“Nachsatz: „Das heißt aber nicht, dass sie unnötig ist.“
Auf die wichtige Rolle der Länder geht Johannes Huber in den „Salzburger Nachrichten“ein. Die Reform der Bundesregierung könne als „Abmahnung gegenüber den Ländern verstanden werden“. Starke Zuwächse bei Leistungen wie der Mindestsicherung schwächten ihre Position gegenüber dem Bund. „Sozialkosten machen die Länder erpressbar“, titelt Huber. Ihre Abhängigkeit vom Bund wachse. Dem freundlichen Gesicht der Bundesregierung wird das extrem recht sein.