Hogwarts an der Themse
Das Mutterhaus aller Parlamente ist ein Zauberschloss mit Tausenden Geheimnissen, Hunderten gleichzeitigen Machtspielen und unzähligen verschlungenen Gängen. Nun spielt das britische Unterhaus eine Schlüsselrolle im Brexit-Drama.
Das britische Parlament ist eine Kathedrale der Demokratie. Durch die riesige Westminster Hall aus dem Jahr 1097 kommt man in die reich verzierte Central Lobby. Im Schatten der Statuen von historischen Premierministern wie William Gladstone oder Benjamin Disraeli verweilt der Besucher einen Augenblick und „fühlt den Hauch der Geschichte“, wie Ex-Regierungschef David Cameron gern sagte. Geschichte wird hier wieder geschrieben werden, wenn das Unterhaus am Dienstag über den Brexit-Deal abstimmen wird.
Der Sitz des Parlamentsgebäudes im Londoner Stadtteil Westminster ist so alt wie die Schaffung demokratischer Strukturen im Land selbst. Nachdem König John im Jahr 1215 mit der „Magna Carta“Einschränkungen seiner Macht eingeräumt hatte, mussten Räume für die Zusammenkünfte der Vertreter der Kirche, des Adels und der Länder geschaffen werden. Am damaligen Königssitz in Westminster wurde 1295 das sogenannte Model Parliament eingerichtet. Es bildet bis heute den Kern des britischen Parlaments.
Das Verhältnis zwischen Monarch und Parlament war nicht weniger turbulent als es heute zwischen Parlament und Regierung ist. Einen Höhepunkt erreichte der Konflikt im 17. Jahrhundert, als die Abgeordneten den verhassten König Charles I. wegen Hochverrats zum Tode verurteilte und 1648 hinrichten ließen. Doch die Versuche des Parlaments, unter Oliver Cromwell selbst zum Souverän zu werden, scheiterten. Erst mit der „Glorreichen Revolution“von 1688 ging der englische Bürgerkrieg nach fast einem Jahrhundert zu Ende. Es etablierte sich eine konstitutionelle Monarchie. Sie beruht, wie so vieles in der britischen Ordnung der Dinge, auf einem ungeschriebenen Einverständnis: „Die britische Verfassung ist ein Bewusstseinszustand“, meint der Historiker Peter Hennessy. „Ihr Funktionieren beruht darauf, dass alle Seiten zur Rücksichtnahme bereit sind.“Das Parlament akzeptiert die Existenz des Königshauses, im Austausch anerkennt der Monarch, dass er keine reale Macht hat.
Großbritannien blühte auf wie nie zuvor. 1707 wurde die Union mit Schottland besiegelt. Das gemeinsame Parlament in seiner heutigen Form etablierte sich mit den beiden Kammern House of Commons und House of Lords, wobei das Unterhaus die Vorherrschaft gewann. Daneben entstand die Regierung als Exekutive und wahre Macht im Staat. Sie benötigt bis heute das Vertrauen des Parlaments und ist dem Unterhaus rechenschaftspflichtig.
Daraus entwickelte sich ein Ritual, das bis heute peinlichst genau befolgt wird. Die aktuelle Premierministerin, Theresa May, nimmt es besonders ernst: Keine Entwicklung ohne ein „statement“im Parlament, das sie stets korrekt mit „Mister Speaker . . .“adressiert, ehe sie sich leidenschaftlich den robusten Auseinandersetzungen hingibt. Die Abgeordneten der Regierung sitzen der Opposition gegenüber, die beiden Seiten der Kammer sind 3,96 Meter getrennt – angeblich exakt zwei Schwertlängen.
Bis in die jüngste Vergangenheit sorgte das Mehrheitswahlrecht zwar für so satte Mehrheiten, dass zwischen Legislative und Exekutive eine klare Machtverschiebung in Richtung Regierung entstand. Das ließ die Abgeordneten aber nicht leiser werden. Höhepunkt der regelmäßigen Auseinandersetzung ist die Fragestunde an den Premierminister jeden Mittwoch um 12.00 Uhr. Selbst Tony Blair meinte: „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich davor nicht nervös war.“Heute hat die oft als „Kasperltheater“bezeichnete „Question Time“mit May und Oppositionsführer Jeremy Corbyn einen Tiefststand erreicht. May gibt Antworten auf nicht gestellte Fragen. Corbyn stellt stets die falsche Frage zur falschen Zeit. Jedes Mal ist es ein vergebener Elfmeter auf ein leeres Tor. 650 Abgeordnete. Auf den ersten Blick scheint das Parlament noch heute von grauhaarigen Männern in grauen Anzügen und langen Stutzen dominiert, die auf den grünen Bänken knotzen und sich mit den immer gleichen Argumenten anschreien. In Wahrheit leisten die 650 Abgeordneten gewaltige Arbeit für ein Jahresgehalt von 77.000 Pfund, das Doppelte des Durchschnittseinkommens. Aktuell arbeiten sie in 43 Ausschüssen. Abgeordnete aller Fraktionen wie Hillary Benn, Tom Tugendhat, Andrea Rayner oder Nicky Morgen liefern die Fundamente einer funktionierenden Demokratie. Hier existiert jene „Koalition der Vernunft“, die sich in Luft aufzulösen scheint, sobald in der Kammer der Parlamentsvorsitzende mit gellender Stimme „Order! Order!“brüllt.
Die Aufgabe des sogenannten Speakers bekleidet seit 2009 der konservative John Bercow. Sieben seiner Vorgänger wurden im Amt hingerichtet, und viele Tory-Abgeordnete wünschen ihm wohl kaum ein gnädigeres Schicksal, nachdem er in der Vorwoche einen Antrag zugelassen hat, der die Regierung zwingt, innerhalb von drei Tagen nach einer Ablehnung des EU-Deals einen Plan B vorzulegen. Schon zuvor hat Bercow sein Amt voller Pomp und Eitelkeit zelebriert. Er selbst sieht das freilich anders: „Meine Aufgabe ist es nicht, Anführer der Regierung zu sein, sondern für die Rechte dieses Hauses einzustehen.“
Nun besteht kaum Zweifel, dass das Parlament das Abkommen mit der EU am Dienstagabend mit großer Mehrheit ablehnen wird, wenn es heißen wird: „The ayes to the right, the nos to the left.“Nach jahrhundertealter Tradition erfolgt die „division“genannte Abstimmung, indem die Abgeordneten sich in zwei Gruppen teilen. Der konservative Ex-Minister und Proeuropäer Ken Clarke ist überzeugt, dass „80 Prozent der Abgeordneten keinen harten Brexit wollen“. Was sie aber wollen – und können –, ist vorerst ebenso wenig klar wie die Regierungsposition. Ein Abgeordneter brachte es jüngst auf den Punkt: „Der Brexit ist wie ein Stresstest für unsere Institutionen.“
Denn „This House“, wie das Parlament über sich spricht, kennt Hunderttausende prozedurale Verfahren und Tricks, die ebenso undurchdringlich erscheinen wie es schwierig ist, in dem Gebäude die Orientierung zu behalten. „Es ist ein Fuchsbau“, sagte der frühere Chef der Liberaldemokraten, Charles Kennedy, einmal. Mehr als 1100 Räume gibt es, von der prunkvollen Kammer des House of Lords zum bescheideneren Unterhaus, von Abgeordnetenbüros am Ende verwunschener Korridore mit frei liegenden Stromkabeln zu zahlreichen Teestuben, wo nicht nur heißes Wasser ausgeschenkt wird. Ewige Baustelle. Das 1870 in seiner heutigen Form fertiggestellte Gebäude, das weltweit zum Mutterhaus der Parlamente wurde, ist in Wirklichkeit eine ewige Baustelle. In der Sitzung vom 28. Juli 1933 fragte der Abgeordnete Geoffrey Mander: „Kann mein ehrenwerter Freund uns informieren, wann es notwendig sein wird, mit der Reparatur der nun begonnenen Reparaturen zu beginnen?“Allein die dringendsten Arbeiten kosten 60 Millionen Pfund im Jahr. Eine überfällige Generalsanierung würde bis zu sechs Milliarden Pfund verschlingen und könnte bis zu 30 Jahre dauern. Vor einer Entscheidung drückt man sich seit Jahren.
Mit dem Brexit wird man weniger Zeit haben. Zudem wirft er eine fundamentale Frage auf, für die das Land bisher keine Antwort hat: Seit der „Magna Carta“sind die Abgeordneten die Träger des Volkswillens. In der Volksabstimmung 2016 hat sich aber nun der Volkswille direkt artikuliert – und steht in offenem Widerspruch zur Mehrheitsmeinung im Parlament. Zeit, Rousseau wieder aus dem Regal zu holen. Kein Zufall wohl, dass jene, die am lautesten den Brexit als Rückkehr der Souveränität des Parlaments forderten, sich seither am meisten bemüht haben, dessen Mitsprache zu verhindern.
Eine der Quellen des Brexit war das Erwachen eines englischen Nationalismus. Mit der Devolution in den späten 1990er-Jahren und dem Friedensprozess in Nordirland bekamen Schottland, Wales und Nordirland eigene Landesparlamente mit wachsenden Befugnissen. England bekam nichts. Charles Kennedy erklärte einmal die vier Landesheiligen der Central Lobby im Parlament: „George für England beim Eingang zum House of Lords, weil die Engländer von der Klassengesellschaft besessen sind. Patrick für Irland über dem Ausgang, weil die Iren nichts wie raus wollen. David für Wales beim House of Commons, weil die Waliser sich so gern selbst reden hören. Und Andrew für Schottland auf dem Weg zur Bar.“
Beiden Seiten der Kammer sind 3,96 Meter getrennt – exakt zwei Schwertlängen. Mehr als 1100 Räume gibt es, von den beiden Kammern bis zu den zahlreichen Teestuben. Volkswille zum Brexit stand im Widerspruch zur Mehrheitsmeinung im Parlament.