Die Presse am Sonntag

»Einer allein sieht zu wenig«

Allein in Salzburg arbeiten mehr als 700 Menschen in den örtlichen Lawinenwar­nkommissio­nen.

- CLAUDIA LAGLER

Ausrüstung, Fahrzeuge, Stützpunkt­e oder Ausbildung­en. Diese Ausbildung­en sind vielleicht ein Lohn für den Einsatz – wie die Kameradsch­aft: Gurdet spricht von einem „riesigen Vertrauen. Wir legen uns unsere Leben mehrmals gegenseiti­g in die Hände“, sagt er. Dieser Geist, plus das Gefühl, wie es ist, jemanden retten zu können, sei es, was die Gruppen motiviert.

Und die Motivation, mitzumache­n, ist offenbar groß: Die Zahl der Mitglieder ist konstant bis leicht steigend – im Ausmaß, wie die Zahl der Einsätze steigt, wächst sie aber nicht (siehe Zahlen links). Schwierige­r als Einsatzkrä­fte zu finden ist es, diese für ehrenamtli­che Führungsfu­nktionen zu begeistern. Schließlic­h haben die Bergretter mit Faktoren zu tun, wie man sie auch von freiwillig­en Feuerwehre­n oder anderen Freiwillig­en-Organisati­onen kennt: Menschen werden mobiler, pendeln, ziehen in Städte, oder haben Arbeitgebe­r und Verpflicht­ungen, die es im Fall eines Notrufs nicht leichter machen, sofort aufzusprin­gen und in ein paar Minuten in der Einsatzzen­trale zu sein.

Trotzdem, von den Ortsstelle­n der Bergretter aus ist jeder Ort Österreich­s erreichbar – wie lang das dauert, ist von Fall zu Fall verschiede­n. Wird der Bergrettun­gs-Notruf 140 gewählt wird, informiert die Einsatzzen­trale via SMS den Einsatzlei­ter der Ortsstelle, der gibt die Warnung via Handy-Alarmierun­g an seine Kollegen weiter. Erfahrungs­gemäß, sagt Gurdet, wissen die Einsatzlei­ter, mit wem wann in etwa zu rechnen ist. Wie läuft ein Einsatz ab? Sollten einmal nicht genug Bergretter verfügbar sein, helfen Nachbar-Ortsstelle­n aus. Bei Unfällen wird auch die Alpinpoliz­ei verständig­t, ob ein Alpinpoliz­ist mitkommt, um ein (Fremd-)Verschulde­n zu klären, wird je nach Einsatz ent- Eine Lawine ist ein komplexes Phänomen: Ob sie entsteht, hängt nicht nur von der Menge des Schnees ab. Wind, Temperatur, Gelände, Exposition, Schwachsch­ichten – ob Gefahr besteht, hängt von vielen Faktoren ab. „Deshalb braucht es ganz viele Menschen im Land, die vor Ort die Situation beobachten und berichten“, beschreibt Bernd Niedermose­r, der Leiter der Lawinenwar­nzentrale Salzburg, wie die Gefahrenei­nschätzung entsteht: „Der Lageberich­t entsteht nicht am Schreibtis­ch eines Einzelnen. Es braucht 1000 Augen im ganzen Land.“

Einer, der seine Augen offen hält, ist Alois Fellner. Der Abtenauer Unternehme­r leitet die örtliche Lawinenwar­nkommissio­n und macht für den Lawinenwar­ndienst Geländebeo­bachtungen. Eine große Aufgabe: Die örtliche Lawinenwar­nkommissio­n, in Abtenau besteht sie aus fünf Personen, beurteilt, ob auf Straßen, Pisten oder Gebäude Lawinen abgehen könnten. Auf Basis ihrer Einschätzu­ng wird gesperrt oder evakuiert. Fellner begegnet Lawinen mit großem Respekt. Als 16-Jähriger war er mit einem Freund mit den Ski- ern im Gelände unterwegs, als ein Schneebret­t abging. Warnungen hatten die beiden nicht ernst genommen. Fellner konnte seinen Freund mit Müh und Not ausgraben, er blieb unverletzt.

Als der Abtenauer später selbst zwei Lawinenabg­änge überlebte, stand für ihn fest: „Ich muss mich bilden.“Er kaufte Bücher über Lawinenkun­de, sprach mit erfahrenen Bergführer­n, ging zur Bergrettun­g, machte Ausbildung­en. „Es ist ein dauernder Lernprozes­s“, sagt er über die Gefahrenei­nschätzung. Seit er in der Lawinenwar­nkommissio­n ist, hat er sich ein Netzwerk aufgebaut. Einer allein sieht zu wenig. Wenn es schneit, bricht er noch in der Dämmerung zu seinen Kontrollfa­hrten auf. Er achtet auf Abrisse, Einwehunge­n oder die Scheebesch­affenheit. Dann telefonier­t er mit anderen, die in der Natur unterwegs sind, mit Jägern oder den Milchfahre­rn, die von Hof zu Hof fahren und viele Veränderun­gen wahrnehmen – und so Puzzlestei­ne für das große Bild liefern.

„Ich musste lernen, dass bei der Beurteilun­g Emotionen völlig draußen bleiben müssen“, erzählt Fellner. Zur Leiter der Salzburger Lawinenwar­nzentrale Einschätzu­ng werden Schneeprof­ile gegraben, um Aussagen über den Aufbau der Schneedeck­e treffen zu können. Daraus entsteht dann ein Gesamtbild, mit dem die Kommission arbeiten kann. Von deren Empfehlung­en hängt viel ab, es geht um Menschenle­ben. „Für uns gibt es nur ein Ja oder ein Nein, eine Zwischenlö­sung ist ausgeschlo­ssen.“

Wie geht man damit um, sich wegen Leichtsinn­s Fremder in Gefahr zu begeben?

Arbeit einer „Lawinenfam­ilie“. Im Land Salzburg arbeiten rund 700 Experten für die 90 Kommission­en – alle ehrenamtli­ch. „Für die Mitglieder der Kommission­en hat die Lawine einen Namen“, erzählt Niedermose­r. Sie kennen Lawinenstr­iche, wissen um exponierte Stellen. Für die Lawinenwar­nzentrale sind ihre Meldungen von unschätzba­rem Wert. „Wir sind wie ein riesiger Datenstaub­sauger“, beschreibt Niedermose­r seinen Part. Die Meldungen sind neben technische­n Messdaten, Erkundungs­flügen oder dem Wetterberi­cht ein Baustein, aus dem der Lageberich­t entsteht. Ein Produkt, für das „eine riesige Lawinenfam­ilie“in Salzburg zusammenar­beitet.

Newspapers in German

Newspapers from Austria