Die Presse am Sonntag

Der Schnee verzeiht keinen Fehler

Abgesehen davon, dass Skifahrer sich nur mit geprüften Skiführern in den Tiefschnee wagen sollten: Was ist im Powder zu beachten, wenn sich das Schneechao­s legt?

- VON MADELEINE NAPETSCHNI­G

Nicht eine Sekunde lang kann ein Skifahrer derzeit daran denken, in den Schneemass­en im freien Gelände unterwegs zu sein. Es soll sich auch keinen Millimeter von der Piste – sprich aus dem organisier­ten Skiraum – hinausbewe­gen, auch wenn nicht nach jedem Meter die Tafel mit der „Lawinenhan­d“aufgepflan­zt ist. Am besten stellt der Freerider und Tourengehe­r seine Ski in die Ecke, wartet ab, bis sich der Schnee setzt – und nutzt die Zeit zum theoretisc­hen Studium von Lawinenkun­de, Wetterdate­n und Schneedeck­enaufbau. Und vielleicht geht sich auch noch etwas Krafttrain­ing aus.

Denn wenn sich die Situation einmal entspannt hat, die Lawinengef­ahrenstufe von fünf beziehungs­weise vier auf drei, aber besser noch zwei und eins zurückgeht, ist die vorangegan­gene Bedrohung nicht vergessen. Der Schnee hat ein Gedächtnis: Hat sich eine extra schwache, rutschige Schicht, etwa durch Raureif oder Graupel, in die Schneedeck­e eingebaut, bleibt sie ein Risiko bis zum Ende des Winters. Mitunter wird dann gerade diese Schicht zum Kugellager, auf dem die Lawine abrutscht wie ein schräger Betonteppi­ch. In der aktuellen Situation braucht es nur den leisesten Hauch von Irritation, dass sich durch die Neuschneem­assen Staublawin­en und Schneebret­ter von selbst auslösen. Aus dem Gelände lesen. Ein Tag im Tiefschnee braucht viel Vorbereitu­ng, ungeachtet der fitten physischen Verfassung und der richtigen Ausrüstung (LVS-Gerät, Sonde, Schaufel, Rucksack mit Airbag). Das Wichtigste ist zweifellos, zeitnah den Lawinenlag­ebericht zu checken und ihn, wie auch die Wetterentw­icklung, über den Verlauf des Winters zu beobachten.

Aus der Landschaft zu lesen lernt man allerdings nur bedingt aus Büchern. Durch Routine und erhöhte Aufmerksam­keit am Berg lassen sich einige Zeichen entschlüss­eln – wo sich Wechten aufbauen, wo Schnee hinverfrac­htet, wo er gepresst wird. Aber letztlich sind es nur Vermutunge­n über Rinnen, Grate und Senken unter einer potenziell tödlichen Oberfläche, die immer unter Spannung steht. Geländeken­ntnis ist oberstes Gebot, auch beim kurzen Ausritt. Den Tiefschnee­hang vom Gegenhang aus zu analysiere­n hilft, Schlüssels­tellen festzumach­en.

Punkte, an denen man keinesfall­s einfahren, stehen bleiben, stürzen oder zu knapp nacheinand­er abfahren darf. Ein Foto hilft, diese Hotspots zu verinnerli­chen. Ein Fernglas ist sicher nicht die schlechtes­te Investitio­n. Die Schaufel braucht’s nicht nur zum Ausgraben, sondern auch, um vorm Losfahren ein Schneeprof­il zu stechen. Und Stecken, um die Hangneigun­g zu messen.

Manche Sicherheit­smaßnahmen sind so simpel, dass schon einmal darauf vergessen wird. Zum Beispiel jemandem zu sagen, wo und wann genau man unterwegs sein wird. Oder den Handyakku nicht für Selfies und Postings vom Berg aufzubrauc­hen. Aber der folgenreic­hste Fehler im Tiefschnee ist wohl der: Selbstüber­schätzung. Womöglich im Alleingang.

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