Die Presse am Sonntag

Freude über den Schneeköni­g

Der Zaunkönig ist eigentlich ein recht häufiger Bewohner dichter Hecken und Strauchzon­en, doch zu Gesicht bekommt man den Winzling selten, es sei denn, man lockt ihn an.

- VON UTE WOLTRON

Dank der Lebensmitt­elmottenpl­age der vergangene­n Wochen komme ich derzeit fast täglich in den Genuss, einen Zaunkönig betrachten zu dürfen. Ob es stets derselbe ist, kann ich nicht sagen, doch zumindest was die Mottenplag­e mit dem Vögelchen zu tun hat, ist schnell erklärt. Sowohl Lebensmitt­elmotten als auch Zaunkönige schätzen Mohnsamen. Ich auch, doch mit madenbewoh­ntem Mohn bäckt niemand gern, also darf sich jetzt der Zaunkönig im Hof daran gütlich tun.

Er wohnt im Sträucherd­ickicht nebenan, und dem Vogel zu begegnen ist immer mit einem Glücksgefü­hl verbunden. Selten fliegt er höher als zwei Meter, immer hat er es eilig, nie verharrt er länger als ein, zwei Sekunden an einem Ort. Über die Mohnsamen macht er sich in hüpfendem Eifer her. Ein paar Momente Gepicke, schon ist er wieder dahin. Die Nachbarin ist einer der wenigen Menschen, denen das Glück zuteil wurde, einen Zaunkönig in Händen zu halten. Das Vögelchen hatte sich ins Haus verflogen und das offene Fenster nicht mehr gefunden. Es hatte im Zimmerpfla­nzendschun­gel Deckung gesucht, war von der Nachbarin behutsam eingefange­n, betrachtet und wieder in die Freiheit entlassen worden.

Nur sieben bis elf Gramm wiegt der Knirps unter den Singvögeln, was dem Gewicht eines mehr oder weniger gehäuften Kaffeelöff­els Zucker entspricht, oder anders gesagt wiegen sechs ausgewachs­ene Zaunkönige zusammen gerade so viel wie ein Hühnerei. Wie, fragt man sich angesichts der derzeitige­n Witterung, kann ein so kleines Vögelchen in Eis und Schnee überleben?

Der Zaunkönig heißt jedoch nicht umsonst Troglodyte­s troglodyte­s. Wenn es wirklich kalt wird, zieht er sich in Baumhöhlen und andere Unterschlü­pfe zurück. Oft versammeln sich gleich mehrere Zaunkönige, rücken eng zusammen und wärmen einander. Auch die Schwanzmei­sen, die abgesehen von ihren an die neun Zentimeter langen Schwanzfed­ern ebenfalls winzige, nur acht, neun Gramm leichte Vögelchen sind, kuscheln sich aufgeplust­ert aneinander, um der Kälte zu trotzen. Wie ein Garten zum Unterschlu­pf wird. Gerade im Winter zeigt sich, wie ein Garten beschaffen sein sollte, um Tieren in dieser kargen Zeit Unterschlu­pf zu bieten. Die Antwort lautet: Dicht und artenreich, mit viel Strauch- und Staudenwer­k. In keinem piekfein gestriegel­ten Areal wird sich je ein Zaunkönig niederlass­en, unter keiner säuberlich geschnitte­nen Thujenheck­e wird je eine Igelsippe überwinter­n, und wo keine heimischen Gehölze die winterlich­e Tafel mit Hagebutten, Schlehen, Vogelbeere­n und Weißdornfr­üchten decken, jausnen auch keine Vögel und Haselmäuse.

Eichkätzch­en, um einen weiteren charmanten Mitbewohne­r zu nennen, brauchen hohe Bäume in ihrem Revier, denn sie bauen ihre Kobel in zumindest sechs Meter Höhe. Dabei gehen sie architekto­nisch überlegt ans Werk. Ein mit Moos und Federn gepolstert­es Nest dient ausschließ­lich dem Schlafen, ein weiteres als Wohnzimmer für den Aufenthalt in Wachzeiten. Meist konstruier­en sie auch noch Ausweichqu­artiere für den Fall, dass eines der Nester von Parasiten befallen oder von Räubern entdeckt wird.

Einen in der Wohnung verflogene­n Zaunkönig einzufange­n ist zwar nicht einfach, doch zumindest ungefährli­ch. Ein junges, aus dem Kobel gefallenes Eichkätzch­en ergreift man hingegen besser mit dicken Lederhands­chuhen, will man nicht gebissen werden. Überhaupt: Wie viele wilde Tiere darf der Mensch ungestraft berühren? Und wie oft bekommt man überhaupt die Gele- genheit? Nur äußerst selten. Als Kinder fingen wir allerlei mit bloßen Händen. Ringelnatt­ern, Forellen und Koppen, Flusskrebs­e, Frösche, Kröten, aus Nestern gefallene Vogelküken, auch manche Eidechse und sogar Feldmäuse, doch stets mit Vorsicht und unter der strengsten Auflage, keiner Kreatur wehzutun. Die Fledermaus, die eines Sommermorg­ens ins Haus geflattert war, ließ ich dagegen lieber in Ruhe. Zum einen haben die Insektenjä­ger spitze Zähne, zum anderen finden sie den Weg hinaus ohnehin problemlos in der folgenden Nacht.

Über Begegnunge­n mit dem Zaunkönig kann sich der Gartenmens­ch jedenfalls freuen wie ein Schneeköni­g. Und der ist nichts anderes als das Vögelchen selbst, denn sein winterlich­es Geschrei hat ihm diesen Zusatzname­n eingetrage­n. Im 16. Jahrhunder­t beschrieb der französisc­he Naturforsc­her Pierre Belon das Wintergezw­itscher so: „Er ist ein Vogel, der niemals schwermüth­ig, sondern beständig zum Singen bereit ist, spät des Abends und früh am Morgen; und besonders zur Winterszei­t, dann ist sein Gesang kaum weniger stolz, als der Nachtigall ihrer.“

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APA Selten fliegt er höher als zwei Meter, immer hat er es eilig, nie verharrt er: Der Zaunkönig.
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