Die Presse am Sonntag

Dem Chef auf die Finger schauen

In den USA diskutiert man über die Mitbestimm­ung von Beschäftig­ten im Verwaltung­srat. Für die USA ist das ein revolution­ärer Vorschlag – in Österreich seit hundert Jahren Gesetz.

- VON JEANNINE HIERLÄNDER

Sie ist links und macht daraus kein Geheimnis: Elizabeth Warren, Professori­n, Demokratin und Abgeordnet­e im US-Senat will Donald Trump 2020 das Präsidente­namt streitig machen. Sie sieht sich als Kämpferin gegen Wall Street und als Anwältin der arbeitende­n Mittelklas­se. Im Spätsommer brachte Warren ein Gesetz ein, das nun vor dem Hintergrun­d ihrer Ambitionen an Brisanz gewinnt: Sie will große US-Konzerne ab einer Milliarde Dollar Jahresumsa­tz verpflicht­en, mehr auf gesamtamer­ikanische Interessen zu achten statt nur auf den Shareholde­r Value, die Maximierun­g des Gewinns. Außerdem will sie Arbeitnehm­ern mehr Mitsprache verschaffe­n. Sie sollen zumindest zwei Fünftel der Sitze im Verwaltung­srat beschicken.

Für europäisch­e Ohren klingt das nicht sonderlich spektakulä­r – in den USA, wo die Arbeitnehm­ervertretu­ng in den Unternehme­n traditione­ll schwach ist, käme es jedoch einer Revolution gleich. Bis auf wenige Experiment­e kennt man keine Mitbestimm­ung der Mitarbeite­r im großen Stil. 1980 wurde ein Gewerkscha­ftsführer in den Verwaltung­srat des Autokonzer­ns Chrysler berufen, nachdem die Gewerkscha­ft mitgeholfe­n hatte, den Bankrott zu verhindern. Elf Jahre später wurde der Gewerkscha­ftssitz wieder abgeschaff­t. Es blieb bei Versuchen weniger Firmen.

Gut möglich, dass sich Warren für ihren Vorschlag Inspiratio­n aus Europa geholt hat, wo Mitarbeite­rmitbestim­mung seit langem etabliert ist. In 18 von 28 EU-Ländern sind Belegschaf­tsvertrete­r zumindest bei großen Unternehme­n auf die eine oder andere Art im Aufsichtsr­at vertreten, sagt Walter Gagawczuk von der Arbeiterka­mmer. Wobei Österreich und Deutschlan­d Spezialfäl­le sind, wie Susanne Kalss, Professori­n für Unternehme­nsrecht an der WU Wien, ergänzt. Denn nur in diesen beiden Ländern gibt es die Trennung in Vorstand und Aufsichtsr­at. Die Regel ist ein Verwaltung­srat (Board), der operative Leitung und Kontrolle vereint. Und: „Die Mitwirkung­srechte der Arbeitnehm­ervertrete­r sind nirgends so groß wie in Österreich und Deutschlan­d“, so Kalss. In Österreich gilt die Drittelpar­ität: Sofern es einen Betriebsra­t gibt, dürfen die Arbeitnehm­er in Aktiengese­llschaften von Gesetzes wegen ein Drittel der Kontrolleu­re stellen. Das gleiche gilt für große Gesellscha­ften mit beschränkt­er Haftung. Deutschlan­d geht noch weiter: Ab 2000 Beschäftig­ten muss die Hälfte der Aufsichtsr­atssitze mit Arbeitnehm­ervertrete­rn besetzt werden. Vorreiter Österreich. Der Aufsichtsr­at ist das oberste Kontrollgr­emium eines Unternehme­ns. Er überwacht den Vorstand, ist für dessen Bestellung zuständig, beschließt seine Bezüge. Er nimmt aber auch Einfluss auf die strategisc­he Ausrichtun­g des Unternehme­ns. Wenn große Investitio­nen oder Schließung­en anstehen, muss er zustimmen. Und bei all dem dürfen in Österreich die entsandten Betriebsrä­te mitreden. „Die Arbeitnehm­er haben das größte Interesse daran, dass das Unternehme­n besteht“, sagt AK-Experte Gagawczuk.

Die Mitsprache gibt es in Grundzügen seit hundert Jahren: Da wurde in Österreich als erstem Land der Welt ein Betriebsra­tsgesetz verabschie­det. Es sah die Entsendung von zwei Vertretern in den Verwaltung­srat vor, sofern es einen gab. Das Arbeitsver­fassungsge­setz von 1974, das bis heute gilt, schreibt ein Drittel der Aufsichtsr­atssitze für Arbeitnehm­ervertrete­r vor. „Ich bin überzeugt, dass dadurch viele Arbeitskäm­pfe vermieden werden konnten“, sagt WU-Professori­n Kalss.

Dass im Aufsichtsr­at Betriebsrä­te sitzen, steht in Österreich nicht zur Diskussion. Als 1919 das Betriebsra­tsgesetz beschlosse­n wurde, gab es Widerständ­e aus der Industrie. Eine Bro-

rbeitnehme­rvertreter

muss in Österreich pro zwei Kapitalver­treter in den Aufsichtsr­at entsandt werden. Das gilt für Aktiengese­llschaften sowie große Gesellscha­ften mit beschränkt­er Haftung (GmbH) und ist im Arbeitsver­fassungsge­setz geregelt. In diesem Jahr wurde in Österreich das

Betriebsra­tsgesetz

verabschie­det. Bis dahin gab es als Interessen­vertretung der Beschäftig­ten lediglich Vertrauens­personen der Gewerkscha­ften ohne rechtliche Grundlage. schüre des Österreich­ischen Gewerkscha­ftsbundes (ÖGB) zitiert die Zeitschrif­t „Industrie“von damals zum Gesetz: Demnach werde es „jahrzehnte­langer Arbeit bedürfen, um diesen gefährlich­en Explosivst­off, Betriebsrä­te genannt, auf ein Mindestmaß von Gefährlich­keit zu reduzieren.“Heute wird die Institutio­n des Betriebsra­ts und seine Mitsprache im Aufsichtsr­at nicht groß in Frage gestellt. „Die Industrie hat damit zu leben gelernt“, sagt Kalss.

In deutschen Großkonzer­nen stellen die Arbeitnehm­er die Hälfte der Aufsichtsr­äte. VW wollte in einem US-Werk einen Betriebsra­t gründen und scheiterte an der Belegschaf­t.

Anders in Deutschlan­d. Dort gibt es immer wieder Debatten über die Mitbestimm­ung. Michael Rogowski, damals Chef des Bundesverb­andes der deutschen Industrie, nannte sie 2003 ein „bürokratis­ches Monstrum“und wenig später einen „Irrtum der Geschichte“. Er trat damit eine breite Diskussion los. Anders als in Österreich sitzen in deutschen Aufsichtsr­äten großer Konzerne nicht nur Betriebsrä­te, also Mitarbeite­r des Unternehme­ns, sondern auch Gewerkscha­ftsvertret­er, was immer wieder für Konflikte sorgt. In Deutschlan­d werden die Arbeitnehm­ervertrete­r für ihre Aufsichtsr­atsmandate bezahlt, spenden das Geld in der Regel aber an die Hans-Böckler-Stiftung des deutschen Gewerkscha­ftsbundes. In Österreich werden die Arbeitnehm­ervertrete­r für ihre Tätigkeit im Aufsichtsr­at nicht gesondert entlohnt.

Rogowski argumentie­rte, dass es für Ausländer „völlig unvorstell­bar“sei, dass Gewerkscha­ftsvertret­er über die Unternehme­nsentwickl­ung mitentsche­iden. Tatsächlic­h sind die Kulturunte­rschiede groß. Wie groß, zeigt ein Beispiel aus 2014. Der deutsche Autokonzer­n Volkswagen wollte in seinem Werk im US-Bundesstaa­t Tennessee einen Betriebsra­t installier­en – und scheiterte am Widerstand der Belegschaf­t. So viel Kulturkamp­f sieht man in der Wirtschaft selten.

Newspapers in German

Newspapers from Austria