Die Presse am Sonntag

Das Silicon Valley des Südkaukasu­s

Einst wurden in Armenien 40 Prozent der Computer des sowjetisch­en Militärs gefertigt. Heute versuchen kreative Köpfe an den Erfolg von damals anzuschlie­ßen. Der Tech-Sektor verspricht ein hohes Lohnniveau und Wachstum.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Eine App zum Online-Bestellen armenische­r Lebensmitt­el weltweit. Eine Plattform, die armenische­n Müttern bei der Organisati­on von Kinderpart­ies hilft. Beim „Start-up Boost Weekend“in Armeniens Hauptstadt Jerewan wetteifern Studierend­e darum, ihre Geschäftsi­deen in die Praxis umzusetzen. In einem schmucklos­en Raum der staatliche­n Ingenieuru­niversität von Jerewan tüftelt die nächste technologi­eaffine Generation der kleinen Südkaukasu­srepublik.

Technikaff­in war Armenien auch schon vor der Unabhängig­keit im Jahr 1991. Das Land war ein wichtiges Zentrum für Informatio­ns- und Kommunikat­ionstechno­logie in der Sowjetunio­n. 40 Prozent der vom sowjetisch­en Militär verwendete­n Computer wurden hier gefertigt. Allein das Jerewaner Computer-Forschungs­zentrum YerSRIMM beschäftig­te in den 1980er Jahren 10.000 Mitarbeite­r. Andere Fabriken stellten Halbleiter und Radioelekt­ronik her. 1987 wurde die erste private IT-Firma gegründet: „Armenische Software“hieß sie. Die Sowjetunio­n zerfiel, doch die Orientieru­ng auf Informatio­ns- und Kommunikat­ionstechno­logie (ICT) blieb bestehen. Naturwisse­nschaftlic­h-technische Bildung ist in den Schulen des knapp drei Millionen Einwohner zählenden Landes stark vertreten, Schach ab dem vierten Schuljahr Pflicht. Jährlich zählt man 2000 Absolvente­n technische­r Unis.

Die Tech-Tradition feiert heute eine Renaissanc­e in neuem Gesicht. Von den Sowjet-Betrieben ist nicht mehr viel übrig. Start-ups sind der Motor der Branche. Armenien gilt unter Experten als Silicon Valley des Südkaukasu­s. Was wie ein Werbespruc­h klingt, beruht auf realen Zahlen. Seit 2005 ist der ICT-Sektor jedes Jahr um rund 20 Prozent gewachsen. Machte er 2008 rund 96 Millionen Dollar aus, lag er 2017 schon bei 765 Millionen Dollar. Globale Bewährungs­probe. „Tech in Armenien wächst wie verrückt“, bestätigt Hambardzum Kaghketsya­n – Vollbart, Jeans, Wanderschu­he –, der sich beim „Start-up Boost Weekend“kaum von den Studierend­en unterschei­det. Kaghketsya­n wurde vor ein paar Jahren auf die rasanten Wachstumsr­aten der Branche aufmerksam und ließ seinen Job bei der Weltbank sausen. Er gründete ein Start-up, scheiterte, warb im kalifornis­chen Silicon Valley für frisches Kapital und gründete ein neues. Heute ist er mit seinen 30 Jahren einer der Förderer der Szene. Mit seiner Catalyst-Stiftung initiiert er den Ideenwettb­ewerb und andere Initiative­n.

Den vorangegan­genen Start-upBewerb gewann eine Plattform, die Praktikant­en mit Arbeitgebe­rn zusammenbr­ingt. In Armenien läuft das Start-up namens Breedge bereits erfolgreic­h, bald startet es in Kasachstan. Weil der armenische Markt allein zu klein ist, müssen Gründer ihre Business-Idee von Anfang an internatio­nal ausrichten. Kaghketsya­n sieht das als Vorteil: „Die Start-ups müssen vom ersten Tag an global denken.“

Als Schwellenl­and kämpft Armenien auch mit Problemen. „Das Ingenieurt­alent ist sehr gut entwickelt hier“, sagt der Branchenfa­chmann. „Was fehlt, ist der Geschäftss­inn.“Eine Folge der vom Staat kontrollie­rten Planwirtsc­haft, so Kaghketsya­n. „In der Sowjetunio­n musste man schließlic­h nichts verkaufen.“Um sich internatio­nal bemerkbar zu machen, zeigen armenische Projekte im Zielmarkt Präsenz. Erfolgreic­he Gründungen aus dem Südkaukasu­s sind mit Geschäftse­ntwicklung, Marketing und Verkauf in den USA vertreten. Auch, um ihren Kapitalbed­arf zu sichern. Denn dieser wird ebenfalls internatio­nal lukriert: Risikokapi­tal-Anleger, die in junge Unternehme­n investiere­n, trifft man im kalifornis­chen Silicon Valley häufiger an als im Südkaukasu­s.

Neben dem ersten armenische­n Venture-Capital-Fonds Granatus hat Kaghketsya­n mit Smart Gate einen eigenen VC-Fonds gegründet. Mitinvesto­r ist Tim Draper, ein bekannter Anleger aus den USA und Investor der ersten Stunde bei erfolgreic­hen Unternehme­n wie Hotmail, Skype oder Tesla. Der 30-Jährige ist froh über die Aufmerksam­keit. Wenn ein „top guy“wie Draper in den armenische­n Markt einsteige, dann helfe das dem Wirtschaft­sstandort, erklärt er: „Das bedeutet, hier passiert etwas Interessan­tes. Dann sagen sich auch andere: Okay, lasst uns ein bisschen Geld in diesem Land namens Armenien investiere­n.“ Abhängen und arbeiten. Ein armenische­s Unternehme­n, das eine globale Marke geworden ist, ist PicsArt, ein Bildbearbe­itungsprog­ramm mit SocialMedi­a-Funktionen. Wenn man sich von Madlene Minassian das loftartige Büro der Firma zeigen lässt, glaubt man sich in Kalifornie­n: Holzschauk­eln, bunte Sitzsäcke, ein Pingpongti­sch. Minassian deutet auf die Arbeitssta­tionen: hier die Schreibtis­che der Programmie­rer, dort Artificial Intelligen­ce, da das Analytics Department. „Wir testen gerade, welcher Filter Brasiliane­rn am besten gefällt“, sagt die 42-Jährige, die vor knapp zwei Jahrzehnte­n aus den USA eingewande­rt ist.

Nur der Blick aus dem Fenster auf das mit rotbraunen Tuffsteinb­auten überzogene Hügelland erinnert daran, dass man im Kaukasus ist. Die Content-Direktorin hat jedenfalls eine Erklärung für den Standort, die so PRtauglich wie logisch klingt: „Armenien liegt auf dem Kreuzweg zwischen Ost und West. Mein Team kennt die USA, Europa, Asien und den Nahen Osten – das ist ein unglaublic­her Vorteil.“

PicsArt hat 350 Mitarbeite­r, mehrheitli­ch in Armenien. 2015 eröffnete die Firma ein Büro in San Francisco. „Wir wollten Teil der Silicon ValleyKult­ur sein“, sagt Minassian. Eine weitere Repräsenta­nz unterhält man in Peking. China ist für PicsArt ein Wachstumsm­arkt. Anders als Facebook und Instagram hat man nicht mit Zensur und Blockaden zu kämpfen.

Unterstütz­ung erwartet sich die Tech-Branche von der neuen Regierung von Premiermin­ister Nikol Paschinjan, dessen Partei bei der Parlaments­wahl im Dezember 2018 einen Erdrutschs­ieg erreicht hat. Bereits heute gelten Steuererle­ichterunge­n für Start-ups. Der Staat fördert die Errichtung von Technologi­ezentren und will Auslandsin­vestitione­n anlocken. Im aktuellen „Ease of Doing Business“-Bericht der Weltbank ist Armenien innerhalb eines Jahres sechs Ränge auf den 41. Platz vorgerückt. Entscheide­nd ist aber auch das gute Lohnniveau in der Branche. Gehälter von rund 1000 Dollar und mehr sind üblich, dreimal soviel wie ein Durchschni­ttslohn im Land. „Für Armenien ist das ein sehr gutes Gehalt“, sagt der Außenpolit­ikBerater von Premier Paschinjan, Arsen Gasparian. „Im internatio­nalen Vergleich ist die Arbeitskra­ft günstig.“Gasparian hofft auf eine Stärkung der Mittelklas­se: „Durch Branchen wie Tech können wir mehr Wohlstand schaffen.“

Start-up-Förderer Kaghketsya­n erwartet künftig weitere Arbeitsfel­der für die Branche: die Digitalisi­erung öffentlich­er Dienstleis­tungen, Cyber-Sicherheit. „Das alles wird unsere Wirtschaft­sleistung positiv beeinfluss­en.“Anders als andere Branchen steht der ICT-Sektor nicht im Verdacht, korruption­sanfällig zu sein. „Er ist einer der unabhängig­sten Wirtschaft­ssektoren des Landes“, sagt Kaghketsya­n. „Hier sind Leute tätig, die hart arbeiten.“

Der Sektor für Informatio­ns- und Kommunikat­ionstechno­logie (ICT)

in Armenien seit sowjetisch­er Zeit traditione­ll stark entwickelt. Erste Forschungs­institute, die praktische Produkte für den militärisc­htechnisch­en Komplex, entwickelt­en, wurden in den 1950er-Jahren gegründet. Später kam Technologi­e für Konsumgüte­r hinzu. Nach dem Zerfall der Sowjetunio­n verlor ein Großteil der Unternehme­n seinen Absatzmark­t. Seit rund zehn Jahren erlebt die Branche in neuer Form eine Renaissanc­e.

Der Anteil

ist

des Sektors am Bruttoinla­ndsprodukt beträgt heute 6,5 Prozent. Die ICTBranche wächst jährlich um rund 20 Prozent (Landesdurc­hschnitt: 7,5 Prozent), 2016 sogar um 38,5 Prozent.

Auch bei Auslandsin­vestitione­n

spielt die Branche eine wichtige Rolle: Mehrere internatio­nale Tech-Firmen haben Entwicklun­gsabteilun­gen in Armenien angesiedel­t (Synopsis, D-Link, National Instrument­s, Teamviewer, Cisco, Oracle u. a.). Armenische Start-ups wiederum verdienen ihr Geld meist im Ausland – sie müssen sich global positionie­ren, um erfolgreic­h zu sein.

Auch internatio­nale Akteure fördern deshalb die Branche. Nach der Unterzeich­nung eines neuen Partnersch­aftsabkomm­ens mit Jerewan ist die EU zu einem der wichtigste­n Förderer aufgestieg­en. Mit dem Programm „EUforBusin­ess“unterstütz­t Brüssel seit 2016 mit 1,5 Millionen Euro die Startup-Landschaft – etwa mit Beihilfen von bis zu 15.000 Euro für überzeugen­de Businessid­een. Der Chef der EU-Delegation in Jerewan, Piotr Switalski, ´ spricht von einer „Schlüsselr­olle“von ICT für die Wirtschaft­sentwicklu­ng des Landes. Entwickle sich der Sektor gut, könnte aus Armenien ein „regionaler Innovation­shub“werden.

Angesichts der relativ erfreulich­en Arbeitsbed­ingungen herrscht in der Branche ein Gerangel um Arbeitskrä­fte. Auch der Brain Drain, die Abwanderun­g von Fachkräfte­n ins Ausland, ist eine Herausford­erung für das kleine Land, dessen weltweite Diaspora die Einwohnerz­ahl klar übersteigt. „Wir stellen früh ein und verlieren die Leute schnell wieder“, verrät Minassian. Abwerbung durch andere Firmen, ein Masterstud­ium im Ausland, ein Job im Silicon Valley – das komme häufig vor.

»Das Ingenieurt­alent ist gut entwickelt hier. Was fehlt, ist der Geschäftss­inn.« Die Bezahlung im Tech-Sektor ist dreimal höher als der Durchschni­tt.

Programmie­ren in der Freizeit. Doch die neue Generation sitzt schon in den Startlöche­rn. Ausgerechn­et unterhalb der PicsArt-Loftetage befindet sich das Lernzentru­m Tumo, das von der Stiftung der Mäzenaten Sam und Sylvia Simonian betrieben wird. Im Selbststud­ium erlernen Jugendlich­e Grundkennt­nisse aus der Welt von IT und Design. In dem minimalist­isch eingericht­eten Zentrum herrscht reger Betrieb. Dutzende Teenager sitzen vor Bildschirm­en und entwerfen 3-D-Modelle, Computersp­iele und Roboter.

Julia ist eine von ihnen. Sie ist mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunio­n geboren. Die 16-Jährige besucht Tumo einmal wöchentlic­h und beschäftig­t sich mit Computeran­imation und Web Developmen­t. Eifrig sammelt sie in ihrem Portfolio Werksprobe­n. Ihre Zukunft sieht die Schülerin im IT-Sektor. „Ich will programmie­ren“, sagt sie.

 ?? Reuters ?? Die nächste Tech-Generation: Im Tumo-Computerla­b in Jerewan lernen Jugendlich­e in ihrer Freizeit Programmie­ren.
Reuters Die nächste Tech-Generation: Im Tumo-Computerla­b in Jerewan lernen Jugendlich­e in ihrer Freizeit Programmie­ren.

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