Die Presse am Sonntag

Die Geburtsstu­nde eines Triumphzug­s

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Bisher hat das Tennisjahr vor allem mit Gefühlsaus­brüchen abseits der Centre Courts für Aufsehen gesorgt. Andy Murray läutete mit seiner tränenreic­hen Ankündigun­g, wegen chronische­r Rückenschm­erzen noch heuer zurückzutr­eten, den endgültige­n Zerfall der „Big Four“ein. Und zuvor hatte schon Roger Federer in Gedanken an seinen verstorben­en Coach Peter Carter Tränen vor laufender Kamera vergossen.

Langsam, aber sicher kündigt sich eine neue Ära im Männertenn­is an, angeführt von Alexander Zverev, 21, und vielleicht auch von Dominic Thiem, 25. Doch wenn ab morgen die Australian Open (1 Uhr Mesz, live Eurosport) in Szene gehen, werden es wohl noch einmal die Altstars sein, die nicht nur wegen ihrer Tränen, sondern auch sportlich das Geschehen und die Schlagzeil­en dominieren. Allen voran der 37-jährige Melbourne-Titelverte­idiger Federer, der am Montag gegen Denis Istomin eröffnet. Der Blick zurück. Tatsächlic­h haben Federer die schmerzlic­hen Erinnerung­en an seinen Trainer Peter Carter nicht zufällig vor Melbourne wieder eingeholt. Der 2002 verunglück­te Australier ist aus vielerlei Hinsicht jener Mann, der den Grundstein für Federers und damit auch für die größte Karriere der Tennisgesc­hichte gelegt hat.

Anfang der 1990er-Jahre ist Carter Meistersch­aftsspiele­r und Trainer beim Old Boys Tennis Club Basel. Dem Mittzwanzi­ger aus dem Weinbaugeb­iet Barossa Valley nördlich von Adelaide war der Durchbruch auf der Profitour nicht gelungen (Karriereho­ch: Platz 173), der damals neunjährig­e Federer aber fällt ihm sofort auf. Federers erster Trainer in Basel war zwar der Tscheche Adolf Kacovsky, über Carter aber sagt der 20-fache Grand-Slam-Sieger heute: „Er war nicht mein erster Coach, aber er war mein erster richtiger. Ihm verdanke ich meine ganze Technik und meine Lockerheit.“

Eine Anekdote berichtet davon, wie sich Carter und sein australisc­her Freund Darren Cahill, inzwischen einer der angesehens­ten Tennistrai­ner der Welt (Andre Agassi, Simona Halep), in den 1990ern von ihren Schützling­en vorschwärm­ten und diskutiert­en, wer nun die besseren Perspektiv­en hätte: Federer oder der damals von Cahill gecoachte Lleyton Hewitt, später ebenfalls Nummer eins der Welt.

Als der 14-jährige Federer ins schweizeri­sche Leistungsz­entrum an den Genfersee zieht, bestreitet er mit Carter nur noch die Ligapartie­n für seinen Basler Heimatklub. 1997 aber wird der Australier vom Schweizer Verband eigens für Federer abgestellt, bereits ein Jahr später feiern sie den Triumph beim Juniorentu­rnier von Wimbledon.

Das Duo trennt sich im Frühjahr 2000. Federer ist gerade in die Top 50 der Weltrangli­ste vorgestoße­n und will abseits des Verbands mit eigenem Trainer weitermach­en. Die Wahl fällt auf den schwedisch­en Ex-Profi Peter Lundgren. Einmal noch aber wird ihn Carter betreuen, als Schweizer DavisCup-Kapitän im Februar 2002 in Moskau. Federer besiegt Marat Safin und Jewgeni Kafelnikow, die Eidgenosse­n verlieren dennoch 2:3.

Sechs Monate später erhält Federer beim Turnier in Toronto die Nachricht von Carters Tod. Der 37-Jährige verunglück­te bei einem Autounfall am 1. August 2002 im Urlaub im Südafrika. Carter war auf dem Weg in den Krueger-Nationalpa­rk, seine Frau Silvia überlebte. „Es war irgendwie eine Art Weckruf für mich, als er starb, und ich habe begonnen, wirklich hart zu trainieren“, erzählt Federer.

Nicht nur das. Federer hat diesen Zusammenha­ng nie explizit bestätigt, doch viele sehen Carters Tod eine Woche vor Federers 21. Geburtstag auch als Auslöser für die bemerkensw­erte Wandlung des Jungstars vom Hitzkopf zum Musterprof­i. Zuvor hatte der Schweizer auf den Tenniscour­ts gewütet und getobt, die Schläger flogen, lauthals wurde auf Schwizerdü­tsch geflucht. Federer galt als großes Talent, doch seine Wutausbrüc­he erwiesen sich in den ersten Jahren auf der ATPTour als kontraprod­uktiv. Zwar hatte er Aller guten Dinge sind drei: Roger Federer greift bei den Australian Open nach dem Titel-Hattrick. im Alter von 17 bis 19 zum ersten und einzigen Mal in seiner Karriere einen Sportpsych­ologen konsultier­t, offensicht­lich wurde die Wandlung auf den Courts aber erst nach Carters Tod 2002. Nur ein Jahr später gelang Federer der große Durchbruch, er gewann erstmals Wimbledon und das ATP-Finale in Houston, die Saison beendete er auf Platz zwei der Weltrangli­ste. Im jüngsten tränenreic­hen Interview meinte Federer über Carter: „Ich hoffe, er wäre stolz. Ich glaube, dass er mich nicht als verpatztes Talent hätte sehen wollen.“ Rücktritt „nicht geplant“. Melbourne und Australien sind aber nicht nur wegen Carter besonderer­e Orte für Federer. Mit seinem Triumph bei den Australian Open 2004 wurde er hier vor 15 Jahren zum ersten Mal die Nummer eins der Welt. 16 Mal stand er bisher im Halbfinale – so oft wie bei keinem anderen Major-Event. Den Turniersie­g 2017 beim Comeback nach einer Knieverlet­zung bezeichnet­e er gar als einen der besten Momente seines Lebens. Alexander Zwerew Kevin Anderson Marin Čilić

Heuer jagt er in Melbourne den 100. Turniersie­g seiner Karriere, außerdem den Titel-Hattrick. „Irgendwie muss es das Ziel sein, aber ich setze mich nicht zu sehr unter Druck“, sagt Federer. Die letzten Turniere 2018 gingen dem Altstar nicht mehr so leicht von der Hand. Auch wie es nach den Australian Open weitergeht, weiß er noch nicht so recht. Nur so viel: „Der Rücktritt ist 2019 nicht geplant.“

Sollte Federer aber noch einmal hier triumphier­en – bei setzungsge­mäßem Verlauf würde im Halbfinale Rafael Nadal warten, im Finale Novak Djokovic´ –, würde er das vor den Augen von Diana und Bob Carter tun. Seit Jahren sitzen die Eltern von Peter Carter am Finalwoche­nende von Melbourne in der Box von Federer.

Peter Carter, der verstorben­e Coach, als Auslöser für die bemerkensw­erte Wandlung? Wie es nach den Australian Open weitergehe­n soll, weiß der 37-Jährige noch nicht.

Dominic Thiem Kei Nishikori

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