Zu dick, um sich zu mögen
Fotos sind nicht erlaubt, die Waage wird verbannt: Gut 41 Prozent der erwachsenen Österreicher sind übergewichtig – und damit chronisch krank.
Gabriele Lahofer ringt um Luft. Gerade hat sich die Pensionistin ihre Schuhe zugebunden. Was einfach klingt, ist für sie Schwerarbeit. Bauch und Oberschenkel sind im Weg, im Rücken zieht es unangenehm. Der Grund ist ihr Gewicht: 97,5 Kilogramm. Bei einer Körpergröße von 1,62 Metern ergibt das Kleidergröße 46. Und eine unangenehme Diagnose: Lahofer hat Übergewicht, leidet an Adipositas, Grad zwei.
Das war vor elf Monaten. Heute ist die 64-Jährige um zehn Kilogramm leichter, turnt täglich und isst weniger. „Es hat gedauert, bis ich mir eingestanden habe, dass ich mir eine Krankheit angegessen habe“, räumt sie ein. Jahrzehntelang war sie für eine Fluglinie tätig. „Meine Uniform war stets mein Gradmesser“, sagt sie. „Wenn sie zu spannen begann, wusste ich, ich habe über die Stränge geschlagen.“So gelang es ihr, ihr berufliches Leben hindurch ihr Gewicht zu halten: „Ich hatte meist um die 75 Kilo und damit Größe 40 oder 42. Laut Tabelle ist das zu viel, aber es ist mein Wohlfühlgewicht – und das will ich wieder erreichen.“
„Nur wenn die Betroffenen den Willen haben, ihren Lebensstil zu ändern, kann das Vorhaben gelingen“, betont Internistin Brigitte Erlacher. Oft sei der Auslöser dafür ein einschneidendes Erlebnis. „Eine Patientin erzählte mir, dass sie im Flugzeug um einen Extragurt bitten musste“, nennt sie ein Beispiel. „Das rief bei ihr Scham hervor und ließ die Alarmglocken schrillen.“
Doch nicht nur Frust kann die chronische Erkrankung auslösen: „Unser Körper hat viel mehr Mechanismen, um Energie zu speichern, als um sie abzubauen. Das ist evolutionär bedingt. Heute essen und trinken die wenigsten, weil sie Energie für körperliche Arbeiten brauchen, sondern sie tun es aus Genuss oder wegen der ständigen Verfügbarkeit von Essen“, sagt Chirurg Alexander Klaus. Dazu kommt: „Die meisten bewegen sich zu wenig, um die Kalorien wieder abzubauen.“ Jeder Dritte zu dick. Die Beobachtung des ärztlichen Direktors im Barmherzige-Schwestern-Krankenhaus Wien, an dem er 2011 ein Adipositas-Zentrum gegründet hat, stützen Statistiken: Laut der OECD sind weltweit 2,1 Milliarden Menschen übergewichtig – also jeder Dritte. In Österreich sind 41 Prozent der Erwachsenen betroffen, heißt es im Ernährungsbericht von 2017.
Die Rechnung dahinter: Körpergewicht in Kilogramm dividiert durch die Körpergröße (in Metern) zum Quadrat. Das ergibt den Body-Mass-Index, BMI, womit die Stufen der Krankheit eingeteilt werden: Ein Wert zwischen 18,5 und 24,9 bedeutet Normalgewicht, zwischen 25 und 29,9 gilt man als übergewichtig. Von erstgradiger Adipositas wird bei einem BMI zwischen 30 und 34,9 gesprochen, Grad zwei liegt zwischen 35 und 39, ab 40 ist die morbide Adipositas erreicht. „Im Deutschen spricht man vom krankhaften Übergewicht, da diese Adipositas krank macht“, so Klaus, „spätestens jetzt treten Folgeerkrankungen auf, wie Diabetes mellitus, Fettstoffwechsel- oder hormonelle Störungen, Gicht, Bluthochdruck, Atemstörungen im Schlaf, Gallensteine, Gelenks- oder Rückenschmerzen.“Auch das Risiko, an einer Form von Krebs zu erkranken, steigt.
„Nicht zu vergessen die psychosoziale Komponente“, sagt Ernährungsmedizinerin Erlacher, die im Jänner gemeinsam mit Klaus und weiteren Kollegen das Buch „Die Abnehm-Docs“veröffentlicht hat, das sich der Adipositas von medizinischer, diätologischer, psychischer und sportlicher Seite annimmt. „Adipöse Menschen sind oft der Diskriminierung ausgesetzt, ziehen sich sozial zurück und essen aus Frust noch mehr.“
So auch Lahofer. Der Verlust ihres Lebensgefährten und eine frühe Pensionierung ließen sie über zwölf Jahre lang immer träger werden. „Ich setzte mich häufiger vor den Fernseher, und irgendwann aß ich den ganzen Tag zwischendurch.“Das Schlimmste: „Ich mochte mich nicht mehr – verweigerte Fotos und sah mich nicht mehr im Spiegel an.“Ihr Umfeld kommentierte ihr Schwererwerden nicht. „Also habe ich einfach weitergegessen.“
»Ich mochte mich nicht mehr, verweigerte Fotos und sah mich nicht im Spiegel an.« »Nicht jeder, der einen höheren Body-Mass-Index hat, ist übergewichtig.«
Bis in den Februar 2018. „Ich kam aus einem Urlaub zurück und wog 97,5 Kilo“, sagt sie. „Zugleich stellte der Hausarzt einen erhöhten Zuckerwert fest – ich bekam Angst: vor einem dreistelligen Gewicht und Diabetes.“So entschied sie sich, die „Coping School“am Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern zu besuchen – ein zwölfwöchiges Gruppenprogramm für Personen mit einem BMI über 30. Einmal wöchentlich findet ein Cardio- und Krafttraining statt, gefolgt von einem gemeinsamen Kochkurs, Akupunktureinheiten („drei Nadeln im Ohr sollten die Lust auf Süßes vertreiben“) sowie Gespräche mit Therapeuten. BMI ist nicht alles. Aber: „Nicht jeder, der einen höheren BMI hat, ist übergewichtig“, betont Mediziner Klaus. „Alter, Geschlecht und Lebensbedingungen müssen betrachtet werden. Manche Spitzensportler haben vermutlich einen BMI von 40 – die nennt keiner krankhaft übergewichtig. Es passt eben nicht jeder Mensch in eine Schablone.“Vor allem Junge nicht: „Ein 1,72 Meter großer 32-Jähriger mit 150 Kilogramm spürt das Übergewicht vielleicht noch nicht, da der Körper im wörtlichen Sinne viel erträgt – trotzdem ist er krank.“
Eine Hilfe auf dem Weg aus der Krankheit kann auch eine Operation sein: „Ein chirurgischer Eingriff ist ab einem BMI von 40 sinnvoll – ersetzt aber das Abnehmen nicht“, betont Klaus. Für die einstige AUA-Mitarbeiterin Lahofer war eine OP übrigens nie eine Option: „Mich hat der Gedanke an das schöne, seit Jahren unberührte Gewand im Kasten ausreichend motiviert. Einiges von früher kann ich schon wieder problemlos anziehen – wenn die knappen Jeans wieder passen, habe ich mein Wunschziel erreicht.“