Die Presse am Sonntag

Der Überlebend­e von Hiroshima

In Japan traf der Kanzler Zeitzeugen der Atombomben­abwürfe.

- VON C. ULTSCH

Wird Europa mehr Verantwort­ung übernehmen müssen in Zukunft? Ich hoffe es. Das wäre gut für die EU, aber auch für andere Teile dieser Welt. Voraussetz­ung dafür ist, die eigenen Krisen zu lösen, von der Migrations­frage bis zum Brexit, und sich nicht in kleinen Themen zu verlieren. Und auch den Mut zu haben, für eigene Interessen einzutrete­n. Die EU hat sich in letzter Zeit darauf verlegt, Menschenre­chtsverlet­zungen in aller Welt zu beanstande­n und für Demokratie zu werben. Das ist ja gut. Doch darüber hinaus hat sich die EU nicht energisch genug für eigene Interessen eingesetzt. In welchen Bereichen möchten Sie das? Die EU ist der größte Geber von Entwicklun­gszusammen­arbeit weltweit. Wir sollten von Ländern, in die wir Mil- liarden investiere­n, natürlich auch verlangen, dass sie negativ beschieden­e Asylwerber zurücknehm­en. Und wenn ich an die Industriep­olitik denke, sollten wir uns nicht nur darüber beklagen, dass die wertvollst­en Technologi­ekonzerne aus den USA und China kommen. Wir sollten uns vielleicht aktiver für unsere europäisch­en Unternehme­n in der Welt einsetzen und ein besseres Umfeld für sie in Europa schaffen. Halten Sie das Klima in Europa derzeit für nicht unternehme­rfreundlic­h genug? Bei vielen Europäern hat ein Sättigungs­gefühl eingesetzt. Das halte ich für gefährlich. Egal wo man unterwegs ist, in Südkorea, Israel oder anderswo: Es gibt viele Regionen in der Welt, die nicht nur aufholen, sondern uns mittlerwei­le im Eiltempo überholen. Sadao Yamamoto erinnert sich genau an den Tag, der sich ins kollektive Gedächtnis der Menschheit eingebrann­t hat. An den 6. August 1945. Er war damals 14 Jahre alt, ein Schüler, als er über dem blitzblaue­n Himmel von Hiroshima drei US-Kampfflugz­euge sah. Im ersten Moment dachte er sich nichts dabei, es war ja Krieg. Doch dann brach ein Inferno los. Um exakt 8.15 Uhr klinkte einer der drei B-29-Bomber, den der Pilot liebevoll „Enola Gay“getauft hatte, seine tödliche Fracht aus: eine 16 Kilotonnen schwere Atombombe.

Sie explodiert­e 600 Meter über dem Zentrum der japanische­n Stadt. Ein gigantisch­er Feuerball erfüllte die Luft. Yamamoto sah das rot-gelbe Flammenmee­r. Ein Hitzestrah­l versengte ihm die linke Wange, die Druckwelle riss ihn zu Boden. Doch er überlebte, 2,5 Kilometer vom Hypozentru­m entfernt. Das Herz von Hiroshima verwandelt­e sich binnen weniger Sekunden in Asche. Dort gab es kein Leben mehr, Menschen verbrannte­n, der Druck zerriss ihre Lungen, viele wurden unter einstürzen­den Häusern begraben. Die radioaktiv­e Verstrahlu­ng besorgte den Rest. Bis zum Ende des Jahres 1945 zählte Hiroshima 140.000 Tote, fast die Hälfte der damaligen Bevölkerun­g.

Yamamoto ist heute 88 Jahre alt, ein freundlich­er Mann mit Weste und roter Krawatte unter seinem grauen Anzug. In einem Plastiksac­k hat er Bilder mitgenomme­n, um seine Geschichte zu veranschau­lichen. Der Pensionist erzählt sie diesmal einer österreich­ischen Delegation, die, angeführt von Bundeskanz­ler Sebastian Kurz, Verkehrsmi­nister Norbert Hofer und Bildungsmi­nister Heinz Faßmann, einen Abstecher nach Hiroshima unternomme­n hat. Es ist die letzte Station ihrer Asien-Reise, nach einem Tag in Seoul und einem in Tokio.

Das Ausloten von wirtschaft­lichen Möglichkei­ten für österreich­ische Firmen stand im Vordergrun­d. Doch in den politische­n Gesprächen schnitt Kurz auch immer wieder das Atomthema an. Das bot sich nicht nur wegen des Korea-Konflikts an. Österreich steht im Kampf für eine atomwaffen­freie Welt seit Jahren an vorderster Front. Es hat federführe­nd den Vertrag für das Verbot von Nuklearwaf­fen vorangetri­eben, für den im Sommer 2017 immerhin 122 UN-Mitgliedst­aaten votierten. Doch die Atomstaate­n und ihre Verbündete­n wollen nichts davon wissen, Nuklearwaf­fen abzuschaff­en. 10.000 davon lagern weltweit noch in Silos, die meisten davon in amerikanis­chen und russischen. Die Welt kann damit mehrere Male vernichtet werden.

Es ist eine verdrängte Gefahr, doch in Hiroshima ist sie lebendig. Hier kann studiert werden, was diese Waffe anrichtet. Im Dokumentat­ionszentru­m beim Friedenspa­rk, wo Kurz und seine Minister im Gedenken an die Opfer von Hiroshima Kränze niederlege­n. Im Hintergrun­d ragt das ausgebrann­te Skelett der ehemaligen Industrieh­alle mit der sogenannte­n Atomkuppel auf. Tabuthema. Doch auch in Hiroshima war der Abwurf der ersten Atombombe lang tabuisiert. Niemand habe darüber reden wollen, erzählt der 66-jährige Bürgermeis­ter der Stadt, Kozumi Matsui. Er selbst spricht erst seit seiner Wahl vor acht Jahren darüber. Seine Mutter starb an den Folgen des Desasters, ebenso wie seine Großmütter. In der Familie blieb das Thema trotzdem unter Verschluss, es war schambehaf­tet – aus Angst vor Gendefekte­n.

Auch Yamamoto schildert seine Erlebnisse erst seit sechs Jahren öffentlich. Er ist einer von 80.000 Überlebend­en, die es noch gibt. Am größten sei die Ignoranz gleich nach der Katastroph­e gewesen, sagt er. Als Jugendlich­er habe er zwar von Radioaktiv­ität gehört, aber nicht gewusst, was das eigentlich sei. Nur einmal habe er Magenprobl­eme bekommen, beim Verzehr von verseuchte­m Gemüse. Er hatte Glück – wie sein Vater, der nur 600 Meter vom Einschlag der Bombe in einem Betonhaus überlebte und 93 Jahre alt wurde.

Yamamoto ist ein fröhlicher Mensch, zumindest will er das sein. Er singt auch gern. Gemeinsam mit dem Bürgermeis­ter stimmt er das Friedensli­ed für Hiroshima an. Stadtvater Matsui engagiert sich internatio­nal für die Abschaffun­g der Atomwaffen. Mit seiner eigenen Regierung ist er nicht zufrieden. Japan hat trotz seiner leidvollen Geschichte den Anti-Nuklear-Vertrag bisher nicht unterzeich­net – aus Angst vor seinen wichtigste­n sicherheit­spolitisch­en Verbündete­n in Washington.

Was sein größter Schock nach dem Abwurf der Bombe gewesen sei, fragen wir Herrn Yamamoto noch. „Dass wir den Krieg verloren haben“, antwortet er. „Diesen sinnlosen Krieg. Wir bekamen ja damals alle Gehirnwäsc­he.“

 ?? APA ?? Bundeskanz­ler Kurz, hier in Hiroshima, gab der „Presse am Sonntag“am Rande seiner Ostasien-Reise ein Interview.
APA Bundeskanz­ler Kurz, hier in Hiroshima, gab der „Presse am Sonntag“am Rande seiner Ostasien-Reise ein Interview.

Newspapers in German

Newspapers from Austria