Lokalaugenschein im zerstörten Kalifat
Die letzten Kämpfer des Islamischen Staats sind im Nordosten Syriens eingekesselt. Das Ende der Extremisten steht bevor. Aber der Sieg bedeutet noch nicht das Ende des IS-Terrors. Ein Besuch an der Front in Baghuz Fawqani.
Eine Douschka vom Kaliber 14,5 Millimeter feuert dröhnend in einen Palmenhain am Ufer des Euphrats. Kurz darauf schlagen in Sekundenbruchteilen mehrere von US-Kampfflugzeugen abgefeuerte Raketen ein, weißgraue Rauchpilze schießen in den blauen Himmel. Dann folgen Maschinengewehrsalven. „Wahrscheinlich versuchen IS-Kämpfer auszubrechen“, sagt Kommandeur Hauwro Adey, „aber das ist unmöglich.“
Der erst 21-Jährige gibt an diesem Frontabschnitt von Baghuz Fawqani die Befehle. Auch die anderen Soldaten auf dem Dach einer zum Frontposten umfunktionierten Villa können ihre Vorfreude über den bevorstehenden Sieg über die Extremisten nicht zurückhalten. Sie scherzen ausgelassen, obwohl der IS ihre erst vor Kurzem eingenommene Stellung jederzeit wieder angreifen kann. Aber die Schüsse in unmittelbarer Nähe lassen die Männer in ihren vom Krieg verstaubten Haaren und verdreckten Uniformen unbeeindruckt.
Adey und seine Soldaten gehören zur christlichen MFS-Miliz. Sie ist Teil der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), einer multiethnischen Militärallianz, zu der auch kurdische und arabische Einheiten gehören. Im Oktober starteten die SDF mit Unterstützung der USA die Offensive auf das letzte Territorium des IS entlang des Euphrats in Nordostsyrien. Vier Monate lang leisteten die Jihadisten erbitterten Widerstand. Nun sind die letzten 500 Islamisten, von denen die meisten aus dem Ausland kommen, auf knapp einem Quadratkilometer in Baghuz Fawqani eingekesselt. Damit ist der Untergang des Kalifats besiegelt, das IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi 2014 ausgerufen und sich über weite Teile in Syrien und im Irak erstreckt hatt.
Die Menschen der gesamten Re- gion können erst einmal aufatmen. Aber mit der militärischen Niederlage ist der Terror des IS nicht zu Ende. Wie schon im Irak, planen die Extremisten auch in Syrien einen brutalen Guerillakrieg aus dem Untergrund. Es kann noch Jahre dauern, bis die Jihadisten endgültig besiegt sind.
„Unsere Truppen könnten mit Sicherheit in wenigen Tagen das restliche IS-Gebiet in Baghuz Fawqani einnehmen“, behauptet Kino Gabriel, der Sprecher der SDF, in seinem Büro im 300 Kilometer entfernten Kamischli. „Aber wir wollen unsere Soldaten und das Leben der Zivilisten nicht gefährden“, erklärt der 28-Jährige. Es seien zwei Gruppen übrig. „Einmal die Terroristen, die bis in den Tod kämpfen und rücksichtslos versuchen werden, möglichst viele mit sich in den Tod zu reißen.“Und dann gebe es noch einen Teil, der seine Familien retten wolle. „Mal sehen, wie sie sich entscheiden“, meint Gabriel süffisant.
Rund 20.000 Menschen sind in den letzten beiden Wochen bereits geflüchtet. Aber noch immer sollen sich zwischen 1500 bis 2000 Zivilisten in der Hand des IS befinden. Die meisten davon seien Frauen und Kinder, wie Gabriel berichtet. Man habe keine Eile und wolle kein unnötiges Blutvergießen, betont der Sprecher. Chaos und Ruinen. Gabriel weiß natürlich, dass mit der Niederlage des IS die Terrororganisation noch lang nicht geschlagen ist. „Wir beobachten das doch im Irak“, beginnt er zu erklären. „Dort wurde der Sieg über den IS 2017 verkündet und heute verübt die Terrororganisation überall Anschläge.“Das wolle man in Syrien mit allen Mitteln verhindern. „Unsere internen Sicherheitsdienste arbeiten mit allen Kräften und enttarnen fast täglich neue ISSchläferzellen.“
Der SDF-Sprecher ist überzeugt, dass der Guerillakrieg der Extremisten in Nordsyrien zu verhindern ist. Und das, obwohl US-Präsident Donald Trump im Dezember überraschend den Abzug seiner Truppen beschlossen hat. Das sei zwar kontraproduktiv im Kampf gegen den Terror, so Gabriel. „Aber wir kooperieren mit den USA und anderen Ländern der internationalen Anti-IS-Koalition weiter.“
Die USA hinterließen jedoch ein Machtvakuum, und niemand wisse, wie und wer das auffülle. Die Lage sei also völlig ungeklärt. Zumal mit der Türkei weitere Komplikationen drohten. Ankara hat mehrfach eine Invasion in Nordsyrien angekündigt, um dort die verhasste Kurdenmiliz YPG zu eliminieren. „Eine Militäroperation der Türkei gefährdet die Sicherheit der mittlerweile über 4000 IS-Gefangenen in unseren Haftanstalten“, behauptet der SDF-Sprecher. „Es sind die islamistischen Milizen, die mit der Türkei zusammenarbeiten, die die Inhaftierten befreien könnten“, glaubt Gabriel. „Denken wir nur an das Szenario, dass eine Rakete versehentlich ein Internierungslager trifft, was zur Flucht Hunderter gefährlicher Terroristen führen könnte. Das wäre ein Desaster für Nordsyrien, aber auch für den Westen.“
Auf der Fahrt durch das erst kürzlich befreite IS-Herrschaftsgebiet in Nordostsyrien sieht man auf erschreckende Weise, wie viel Zerstörung, Leiden und Elend die IS-Terrororganisation in Syrien ausgelöst hat. Die Dörfer und Städte, die sich entlang des Euphrats endlos aneinanderreihen, sind meist nur noch Ruinen. Es ist ein Chaos aus gekippten Strommasten, kaputten Wassertanks, zerbrochenen Möbeln, Klimaanlagen, verbrannten Autos und Lastkraftwagen, die wahllos verstreut liegen. Dächer und Wände von Häusern sind komplett eingestürzt.
Das Getreide auf den Feldern der fruchtbaren Region ist ausgetrocknet und wird von Gras überwuchert. Doch das bevorstehende Ende des IS gibt den Menschen wieder Hoffnung und Glaube an die Zukunft.
Auf der Rückfahrt läuft ein arabischer Schlager. Im SDF-Hauptquartier von Baghuz Fawqani brennt nachts ein großes Feuer im Hof. Ein Soldat kippt Diesel in die Flammen, um die dicken Baumstämme am Brennen zu halten. Die Wärme tut gut, wenn die Temperatur nachts auf fünf Grad sinkt. Hier sitzen Kämpfer von allen Gruppen des SDF nebeneinander ums Feuer: Christen, Araber und Kurden. Es wird viel gelacht. Auch hier ist die Stimmung ausgelassen. Man merkt, kaum einer kann es abwarten, bis der IS besiegt und der Krieg zu Ende ist.
Die USA hinterlassen ein Machtvakuum, und niemand weiß, wie und wer es auffüllt.