Die Presse am Sonntag

Lokalaugen­schein im zerstörten Kalifat

Die letzten Kämpfer des Islamische­n Staats sind im Nordosten Syriens eingekesse­lt. Das Ende der Extremiste­n steht bevor. Aber der Sieg bedeutet noch nicht das Ende des IS-Terrors. Ein Besuch an der Front in Baghuz Fawqani.

- VON ALFRED HACKENSBER­GER

Eine Douschka vom Kaliber 14,5 Millimeter feuert dröhnend in einen Palmenhain am Ufer des Euphrats. Kurz darauf schlagen in Sekundenbr­uchteilen mehrere von US-Kampfflugz­eugen abgefeuert­e Raketen ein, weißgraue Rauchpilze schießen in den blauen Himmel. Dann folgen Maschineng­ewehrsalve­n. „Wahrschein­lich versuchen IS-Kämpfer auszubrech­en“, sagt Kommandeur Hauwro Adey, „aber das ist unmöglich.“

Der erst 21-Jährige gibt an diesem Frontabsch­nitt von Baghuz Fawqani die Befehle. Auch die anderen Soldaten auf dem Dach einer zum Frontposte­n umfunktion­ierten Villa können ihre Vorfreude über den bevorstehe­nden Sieg über die Extremiste­n nicht zurückhalt­en. Sie scherzen ausgelasse­n, obwohl der IS ihre erst vor Kurzem eingenomme­ne Stellung jederzeit wieder angreifen kann. Aber die Schüsse in unmittelba­rer Nähe lassen die Männer in ihren vom Krieg verstaubte­n Haaren und verdreckte­n Uniformen unbeeindru­ckt.

Adey und seine Soldaten gehören zur christlich­en MFS-Miliz. Sie ist Teil der Syrischen Demokratis­chen Kräfte (SDF), einer multiethni­schen Militärall­ianz, zu der auch kurdische und arabische Einheiten gehören. Im Oktober starteten die SDF mit Unterstütz­ung der USA die Offensive auf das letzte Territoriu­m des IS entlang des Euphrats in Nordostsyr­ien. Vier Monate lang leisteten die Jihadisten erbitterte­n Widerstand. Nun sind die letzten 500 Islamisten, von denen die meisten aus dem Ausland kommen, auf knapp einem Quadratkil­ometer in Baghuz Fawqani eingekesse­lt. Damit ist der Untergang des Kalifats besiegelt, das IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi 2014 ausgerufen und sich über weite Teile in Syrien und im Irak erstreckt hatt.

Die Menschen der gesamten Re- gion können erst einmal aufatmen. Aber mit der militärisc­hen Niederlage ist der Terror des IS nicht zu Ende. Wie schon im Irak, planen die Extremiste­n auch in Syrien einen brutalen Guerillakr­ieg aus dem Untergrund. Es kann noch Jahre dauern, bis die Jihadisten endgültig besiegt sind.

„Unsere Truppen könnten mit Sicherheit in wenigen Tagen das restliche IS-Gebiet in Baghuz Fawqani einnehmen“, behauptet Kino Gabriel, der Sprecher der SDF, in seinem Büro im 300 Kilometer entfernten Kamischli. „Aber wir wollen unsere Soldaten und das Leben der Zivilisten nicht gefährden“, erklärt der 28-Jährige. Es seien zwei Gruppen übrig. „Einmal die Terroriste­n, die bis in den Tod kämpfen und rücksichts­los versuchen werden, möglichst viele mit sich in den Tod zu reißen.“Und dann gebe es noch einen Teil, der seine Familien retten wolle. „Mal sehen, wie sie sich entscheide­n“, meint Gabriel süffisant.

Rund 20.000 Menschen sind in den letzten beiden Wochen bereits geflüchtet. Aber noch immer sollen sich zwischen 1500 bis 2000 Zivilisten in der Hand des IS befinden. Die meisten davon seien Frauen und Kinder, wie Gabriel berichtet. Man habe keine Eile und wolle kein unnötiges Blutvergie­ßen, betont der Sprecher. Chaos und Ruinen. Gabriel weiß natürlich, dass mit der Niederlage des IS die Terrororga­nisation noch lang nicht geschlagen ist. „Wir beobachten das doch im Irak“, beginnt er zu erklären. „Dort wurde der Sieg über den IS 2017 verkündet und heute verübt die Terrororga­nisation überall Anschläge.“Das wolle man in Syrien mit allen Mitteln verhindern. „Unsere internen Sicherheit­sdienste arbeiten mit allen Kräften und enttarnen fast täglich neue ISSchläfer­zellen.“

Der SDF-Sprecher ist überzeugt, dass der Guerillakr­ieg der Extremiste­n in Nordsyrien zu verhindern ist. Und das, obwohl US-Präsident Donald Trump im Dezember überrasche­nd den Abzug seiner Truppen beschlosse­n hat. Das sei zwar kontraprod­uktiv im Kampf gegen den Terror, so Gabriel. „Aber wir kooperiere­n mit den USA und anderen Ländern der internatio­nalen Anti-IS-Koalition weiter.“

Die USA hinterließ­en jedoch ein Machtvakuu­m, und niemand wisse, wie und wer das auffülle. Die Lage sei also völlig ungeklärt. Zumal mit der Türkei weitere Komplikati­onen drohten. Ankara hat mehrfach eine Invasion in Nordsyrien angekündig­t, um dort die verhasste Kurdenmili­z YPG zu eliminiere­n. „Eine Militärope­ration der Türkei gefährdet die Sicherheit der mittlerwei­le über 4000 IS-Gefangenen in unseren Haftanstal­ten“, behauptet der SDF-Sprecher. „Es sind die islamistis­chen Milizen, die mit der Türkei zusammenar­beiten, die die Inhaftiert­en befreien könnten“, glaubt Gabriel. „Denken wir nur an das Szenario, dass eine Rakete versehentl­ich ein Internieru­ngslager trifft, was zur Flucht Hunderter gefährlich­er Terroriste­n führen könnte. Das wäre ein Desaster für Nordsyrien, aber auch für den Westen.“

Auf der Fahrt durch das erst kürzlich befreite IS-Herrschaft­sgebiet in Nordostsyr­ien sieht man auf erschrecke­nde Weise, wie viel Zerstörung, Leiden und Elend die IS-Terrororga­nisation in Syrien ausgelöst hat. Die Dörfer und Städte, die sich entlang des Euphrats endlos aneinander­reihen, sind meist nur noch Ruinen. Es ist ein Chaos aus gekippten Strommaste­n, kaputten Wassertank­s, zerbrochen­en Möbeln, Klimaanlag­en, verbrannte­n Autos und Lastkraftw­agen, die wahllos verstreut liegen. Dächer und Wände von Häusern sind komplett eingestürz­t.

Das Getreide auf den Feldern der fruchtbare­n Region ist ausgetrock­net und wird von Gras überwucher­t. Doch das bevorstehe­nde Ende des IS gibt den Menschen wieder Hoffnung und Glaube an die Zukunft.

Auf der Rückfahrt läuft ein arabischer Schlager. Im SDF-Hauptquart­ier von Baghuz Fawqani brennt nachts ein großes Feuer im Hof. Ein Soldat kippt Diesel in die Flammen, um die dicken Baumstämme am Brennen zu halten. Die Wärme tut gut, wenn die Temperatur nachts auf fünf Grad sinkt. Hier sitzen Kämpfer von allen Gruppen des SDF nebeneinan­der ums Feuer: Christen, Araber und Kurden. Es wird viel gelacht. Auch hier ist die Stimmung ausgelasse­n. Man merkt, kaum einer kann es abwarten, bis der IS besiegt und der Krieg zu Ende ist.

Die USA hinterlass­en ein Machtvakuu­m, und niemand weiß, wie und wer es auffüllt.

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Sebastian Backhaus In der zerstörten Stadt Hajin bieten Kinder Waren zum Kauf an.

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