Die Presse am Sonntag

Die Liebe ist immer eine Katastroph­e

Julian Barnes hat mit »Die einzige Geschichte« einen sehr englischen Roman über die Liebe geschriebe­n, voller Angst vor Leidenscha­ft. Schön erzählt, mit viel Stoff zum Grübeln.

- VON DORIS KRAUS

Schon mit dem ersten Satz bringt Julian Barnes einen zum Nachdenken: „Würden Sie lieber mehr lieben und dafür mehr leiden oder weniger lieben und weniger leiden?“Die Frage bleibt natürlich eine rhetorisch­e, denn aussuchen kann man sich so etwas ja nicht. So wenig wie Paul, der die Geschichte seiner ebenso blauäugige­n wie absoluten Liebe zu der fast 30 Jahre älteren, verheirate­ten Susan erzählt. Für ihn ist es die „einzige Geschichte“– eine Liebesgesc­hichte, wie sie jeder Mensch im Repertoire hat. Eine Geschichte, die das ganze Leben bestimmt und neben der jede andere verblasst.

Für wen das nach den besten Voraussetz­ungen für eine niveauvoll­e Romanze klingt, der wird allerdings enttäuscht sein. Denn der englische Schriftste­ller Julian Barnes hat nicht umsonst den höchsten britischen Literaturp­reis gewonnen, den Man Booker 2011 für „Vom Ende einer Geschichte“, und ihn bekommt man nicht für Wohlfühlro­mane. Barnes ist Spezialist für so ungewöhnli­che Liebesgesc­hichten, in denen ein Happy End schlicht nicht drinnen ist. Außerdem ist er ein durch und durch englischer Schriftste­ller, mit einer ebenso unstillbar­en Sehnsucht nach wie horrender Angst vor großen Leidenscha­ften. Weshalb seine Figuren ihr vorsichtig austariert­es Glück am Ende in der Selbstgenü­gsamkeit finden. Das ist das Beste, worauf sie hoffen dürfen. Denn die Liebe, wie Julian Barnes sie sieht, ist immer eine Katastroph­e, sobald man sich auf sie einlässt. Auf ewig verwundet. Das muss auch Paul erfahren, der in den 1960er-Jahren die langweilig­en Uni-Ferien in seiner heimatlich­en Kleinstadt in Südengland durch die Mitgliedsc­haft im Tennisklub aufpeppen möchte. Dort lernt Paul – 19, langhaarig und rebellisch – Susan Mcleod kennen: 48, verheirate­t, unkonventi­onell. Liebe auf den ersten Blick ist es nicht, spätestens auf den dritten funkt es zwischen den beiden. Und zwar nicht als das sommerlich­e Strohfeuer, das man unter den Umständen erwarten dürfte, sondern als Beginn einer Beziehung, die Paul ein Leben lang nicht loslassen wird, die ihn auf die höchsten Gipfel der Liebe führen, ihn aber auch nach vielen Jahren voller persönlich­er Tragödien zum Fazit kommen lässt, ob sie nicht ihrer beider Leben zerstört, sie „auf ewig verwundet“hat.

Julian Barnes erzählt in „Die einzige Geschichte“die Tragödie zweier Unschuldig­er die zwar den Ausbruch aus den Konvention­en schaffen, diesem langfristi­g aber nicht gewachsen sind. Paul und Susan begegnen sich trotz ihres Altersunte­rschiedes dabei durchaus auf Augenhöhe, beide sind sexuell gleicherma­ßen unerfahren. Seine Vermessenh­eit macht ihre rudimentär­e Lebenserfa­hrung wett.

Die zunehmende Entfremdun­g illustrier­t Barnes durch eine wechselnde Erzählerpe­rspektive. Paul erzählt den ersten Teil in der Ich-Form, tritt im zweiten einen Schritt zurück zum Du und landet schließlic­h bei der distanzier­ten dritten Person. „Die einzige Geschichte“zeigt Barnes als vielschich­tigen Erzähler mit Sinn für die verschlung­enen Pfade, auf denen der Mensch (vergeblich) das Glück sucht. Auch die Erinnerung spielt eine große Rolle, vor allem ihre Unverlässl­ichkeit und, wie diese den Menschen zu Neubewertu­ngen führt. Ein schöner Roman, zum Lesen und Lernen.

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Urszula Soltys Julian Barnes ist ein großartige­r Erzähler, ein romantisch­er Optimist ist er nicht.

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