Berlinale der Mittelmäßigkeit
Heute endet die 69. Berlinale, Langzeitdirektor Dieter Kosslick dankt nach 18 Jahren ab. Zu sehen war fast nur gepflegter Durchschnitt, die spannendsten Ausreißer stammten von Frauen.
Wer dieser Tage bei der Berlinale weilte, konnte rund um das Festivalzentrum auf dem Marlene-Dietrich-Platz immer wieder vereinzelte Gelbwesten entdecken. Nur waren diese keine Protestsignale, sondern Sicherheitskräfte, Symbole der Ordnung. Auch sonst nahm alles bei der Berlinale den gewohnten Lauf. Skandale und Sensationen blieben ebenso aus wie großes Staraufgebot. Auffällig war die Schrumpfung des Wettbewerbsumfangs: Letztes Jahr ritterten 19 Filme um den Goldbären, heuer 17, von diesen wurde einer kurzfristig zurückgezogen. Am Tag vor der Abschlussgala schien das Event schon zur Ruhe gebettet.
Ob das Festivalleiter Dieter Kosslick wohl freut oder ärgert? Er erlebte heuer das Finale seiner 18-jährigen Intendanz. Dass sie ohne nennenswerte Aufreger über die Bühne ging, garantiert einen entspannten Abgang, erinnert aber auch an den Vorwurf der Charakterlosigkeit, dem sich das Festival unter seiner Leitung öfters ausgesetzt sah.
Zudem bekam das Image der Berlinale als politische Veranstaltung diesmal einen Kratzer ab: Der Film, der unvermittelt aus dem Wettbewerb fiel, war Zhang Yimous „One Second“, er soll zur Zeit der chinesischen Kulturrevolution spielen. Seine Rücknahme aus „technischen Gründen“befeuerte Gerüchte um Zensur, die von Festivalseite unkommentiert blieben. Als Ersatz zeigte man ausgerechnet Zhangs Martial-Arts-Epos „Hero“, dem der Ruf eines Propagandawerks anhaftet. Auf ein Filmevent, das sich als Bastion der Kunstfreiheit versteht (und eine chinesische Luxusmarke zu seinen Sponsoren zählt), wirft das kein gutes Licht.
Schmeichelhafter war die starke Präsenz von Filmemacherinnen, darunter auch die Österreicherin Marie Kreutzer. Unter ihren Beiträgen fanden sich die spannendsten, aber auch schrecklichsten Festivaltitel; etwa Lone Scherfigs Nettigkeitsschmonzette „The Kindness of Strangers“, die das Bärenrennen mit gähnender Langeweile eröffnete. Die Mazedonierin Teona Strugar Mitevska überraschte dafür wenig später mit der ungewöhnlichen Emanzipationsdramödie „God Exists, Her Name Is Petrunya“: Ein christlich-orthodoxer Brauch gerät zum Katalysator des Aufbegehrens einer wütenden jungen Frau, die sich nicht ins patriarchale System ihrer Heimat fügen will. Orthodoxie und Sexismus. Als der Kleinstadtpriester ein geweihtes Kreuz ins Wasser wirft, das seinem traditionsgemäß männlichen Fänger Glück bringen soll, springt Petrunya (toll: Zorica Nusheva) spontan hinterher – und schnappt einem Rudel aufgebrachter Burschen die Trophäe vor der Nase weg. Die Gemeinde will den Vorfall so schnell wie möglich unter den Teppich kehren, doch die rechtmäßige Siegerin lässt sich ihren Triumph nicht streitig machen. Mitevska inszeniert den friedlichen Widerstand der Protagonistin gegen „business as usual“mit Biss und Humor – und liefert eine für den kleinen Rahmen der Geschichte erstaunlich differenzierte Analyse der komplexen Machtgefüge, die sexistische Gesellschaftsstrukturen aufrechterhalten.
Die Kirche kommt dabei nicht besonders gut weg – aber immer noch besser als in Francois¸ Ozons „Graceˆ a` Dieu“, einem Drama über einen weitreichenden Missbrauchsfall, der 2015 in der Erzdiözese Lyon aufgedeckt wurde. Im nüchternen Stil von Reportagefilmen wie „Spotlight“folgt es den Bemühungen eines ehemaligen Opfers (Melvil Poupaud), ein öffentliches Schuldeingeständnis des verantwortlichen Pfarrers, Bernard Preynat, zu erwirken. Seine Suche nach persönlicher Gerechtigkeit weitet sich zusehends zu einem Grundsatzfeldzug gegen das klerikale Schweigen in Bezug auf Kindesmissbrauch aus. Der akribisch recherchierte Film entstand in Zusammenarbeit mit dem Opferverein La Parole Liber´ee,´ wechselt seine Hauptfiguren und erzählt so auch von den Hürden klassenübergreifender Solidarisierung. Besondere Brisanz verleiht ihm seine Aktualität: Wichtige Gerichtsurteile in der Causa stehen an, Preynats Anwalt hofft, den für 20. Februar geplanten französi- schen Filmstart per einstweiliger Verfügung zu unterbinden.
Die Hauptfigur des israelischen Wettbewerbsbeitrags „Synonymes“führt indes einen Kampf gegen sich selbst. Yoav (Tom Mercier) will alles, nur kein Israeli sein. Darum ist er nach Paris gezogen, darum weigert er sich, Hebräisch zu sprechen, darum paukt er tagtäglich französische Vokabeln. Doch die Konstruktion einer neuen Identität gestaltet sich schwieriger als gedacht, bald fühlt er sich selbst wie ein abgeschmacktes Synonym. Mit seiner auto-
Die Gerüchte um chinesische Zensur blieben von Festivalseite unkommentiert. »Ich war zu Hause, aber«: Mehr solche Filme könnten die müde Berlinale aufwecken.
biografischen Studie übers Fremdsein im eigenen Ich gelingt dem Regisseur Nadav Lapid ein bemerkenswerter Drahtseilakt zwischen surrealer Verfremdung und konventioneller Erzählung, Mercier beeindruckt mit einer Tour-de-Force-Performance von enormer körperlicher Dringlichkeit. Ein Sohn verschwindet. Die formale Spleenigkeit von „Synonymes“brachte Abwechslung in das bewährte Wettbewerbsstrickmuster; doch der künstlerisch eigenwilligste Beitrag stammte von Angela Schanelec. Auch die deutsche Autorenfilmerin spielte in „Ich war zu Hause, aber“mit Motiven aus ihrem eigenen Leben: Nach einwöchigem Verschwinden kehrt der 13-jährige Sohn einer Berliner Kulturschaffenden, deren Mann unlängst verstorben ist, zurück – ohne ein Wort zu sagen. Die Mutter (Maren Eggert) ist froh, ihn wiederzuhaben. Doch der Vorfall befördert die Ausweitung eines schwelenden Verlustgefühls, das ihren Alltag zersetzt. Der Film führt Schanelecs Ästhetik der Auslassung und Zartheit in neue, ungeahnte Sphären, ist mal still und mal redselig, mal furchtbar schmerzhaft und mal schreiend komisch, und oft auf berückende Weise rätselhaft. Man darf hoffen, dass Dieter Kosslicks Nachfolger, Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, solche Kinoenigmen öfter ins Programm nehmen – dann wacht die müde Berlinale schnell wieder auf.