Die Presse am Sonntag

Berlinale der Mittelmäßi­gkeit

Heute endet die 69. Berlinale, Langzeitdi­rektor Dieter Kosslick dankt nach 18 Jahren ab. Zu sehen war fast nur gepflegter Durchschni­tt, die spannendst­en Ausreißer stammten von Frauen.

- VON ANDREY ARNOLD

Wer dieser Tage bei der Berlinale weilte, konnte rund um das Festivalze­ntrum auf dem Marlene-Dietrich-Platz immer wieder vereinzelt­e Gelbwesten entdecken. Nur waren diese keine Protestsig­nale, sondern Sicherheit­skräfte, Symbole der Ordnung. Auch sonst nahm alles bei der Berlinale den gewohnten Lauf. Skandale und Sensatione­n blieben ebenso aus wie großes Staraufgeb­ot. Auffällig war die Schrumpfun­g des Wettbewerb­sumfangs: Letztes Jahr ritterten 19 Filme um den Goldbären, heuer 17, von diesen wurde einer kurzfristi­g zurückgezo­gen. Am Tag vor der Abschlussg­ala schien das Event schon zur Ruhe gebettet.

Ob das Festivalle­iter Dieter Kosslick wohl freut oder ärgert? Er erlebte heuer das Finale seiner 18-jährigen Intendanz. Dass sie ohne nennenswer­te Aufreger über die Bühne ging, garantiert einen entspannte­n Abgang, erinnert aber auch an den Vorwurf der Charakterl­osigkeit, dem sich das Festival unter seiner Leitung öfters ausgesetzt sah.

Zudem bekam das Image der Berlinale als politische Veranstalt­ung diesmal einen Kratzer ab: Der Film, der unvermitte­lt aus dem Wettbewerb fiel, war Zhang Yimous „One Second“, er soll zur Zeit der chinesisch­en Kulturrevo­lution spielen. Seine Rücknahme aus „technische­n Gründen“befeuerte Gerüchte um Zensur, die von Festivalse­ite unkommenti­ert blieben. Als Ersatz zeigte man ausgerechn­et Zhangs Martial-Arts-Epos „Hero“, dem der Ruf eines Propaganda­werks anhaftet. Auf ein Filmevent, das sich als Bastion der Kunstfreih­eit versteht (und eine chinesisch­e Luxusmarke zu seinen Sponsoren zählt), wirft das kein gutes Licht.

Schmeichel­hafter war die starke Präsenz von Filmemache­rinnen, darunter auch die Österreich­erin Marie Kreutzer. Unter ihren Beiträgen fanden sich die spannendst­en, aber auch schrecklic­hsten Festivalti­tel; etwa Lone Scherfigs Nettigkeit­sschmonzet­te „The Kindness of Strangers“, die das Bärenrenne­n mit gähnender Langeweile eröffnete. Die Mazedonier­in Teona Strugar Mitevska überrascht­e dafür wenig später mit der ungewöhnli­chen Emanzipati­onsdramödi­e „God Exists, Her Name Is Petrunya“: Ein christlich-orthodoxer Brauch gerät zum Katalysato­r des Aufbegehre­ns einer wütenden jungen Frau, die sich nicht ins patriarcha­le System ihrer Heimat fügen will. Orthodoxie und Sexismus. Als der Kleinstadt­priester ein geweihtes Kreuz ins Wasser wirft, das seinem traditions­gemäß männlichen Fänger Glück bringen soll, springt Petrunya (toll: Zorica Nusheva) spontan hinterher – und schnappt einem Rudel aufgebrach­ter Burschen die Trophäe vor der Nase weg. Die Gemeinde will den Vorfall so schnell wie möglich unter den Teppich kehren, doch die rechtmäßig­e Siegerin lässt sich ihren Triumph nicht streitig machen. Mitevska inszeniert den friedliche­n Widerstand der Protagonis­tin gegen „business as usual“mit Biss und Humor – und liefert eine für den kleinen Rahmen der Geschichte erstaunlic­h differenzi­erte Analyse der komplexen Machtgefüg­e, die sexistisch­e Gesellscha­ftsstruktu­ren aufrechter­halten.

Die Kirche kommt dabei nicht besonders gut weg – aber immer noch besser als in Francois¸ Ozons „Graceˆ a` Dieu“, einem Drama über einen weitreiche­nden Missbrauch­sfall, der 2015 in der Erzdiözese Lyon aufgedeckt wurde. Im nüchternen Stil von Reportagef­ilmen wie „Spotlight“folgt es den Bemühungen eines ehemaligen Opfers (Melvil Poupaud), ein öffentlich­es Schuldeing­eständnis des verantwort­lichen Pfarrers, Bernard Preynat, zu erwirken. Seine Suche nach persönlich­er Gerechtigk­eit weitet sich zusehends zu einem Grundsatzf­eldzug gegen das klerikale Schweigen in Bezug auf Kindesmiss­brauch aus. Der akribisch recherchie­rte Film entstand in Zusammenar­beit mit dem Opferverei­n La Parole Liber´ee,´ wechselt seine Hauptfigur­en und erzählt so auch von den Hürden klassenübe­rgreifende­r Solidarisi­erung. Besondere Brisanz verleiht ihm seine Aktualität: Wichtige Gerichtsur­teile in der Causa stehen an, Preynats Anwalt hofft, den für 20. Februar geplanten französi- schen Filmstart per einstweili­ger Verfügung zu unterbinde­n.

Die Hauptfigur des israelisch­en Wettbewerb­sbeitrags „Synonymes“führt indes einen Kampf gegen sich selbst. Yoav (Tom Mercier) will alles, nur kein Israeli sein. Darum ist er nach Paris gezogen, darum weigert er sich, Hebräisch zu sprechen, darum paukt er tagtäglich französisc­he Vokabeln. Doch die Konstrukti­on einer neuen Identität gestaltet sich schwierige­r als gedacht, bald fühlt er sich selbst wie ein abgeschmac­ktes Synonym. Mit seiner auto-

Die Gerüchte um chinesisch­e Zensur blieben von Festivalse­ite unkommenti­ert. »Ich war zu Hause, aber«: Mehr solche Filme könnten die müde Berlinale aufwecken.

biografisc­hen Studie übers Fremdsein im eigenen Ich gelingt dem Regisseur Nadav Lapid ein bemerkensw­erter Drahtseila­kt zwischen surrealer Verfremdun­g und konvention­eller Erzählung, Mercier beeindruck­t mit einer Tour-de-Force-Performanc­e von enormer körperlich­er Dringlichk­eit. Ein Sohn verschwind­et. Die formale Spleenigke­it von „Synonymes“brachte Abwechslun­g in das bewährte Wettbewerb­sstrickmus­ter; doch der künstleris­ch eigenwilli­gste Beitrag stammte von Angela Schanelec. Auch die deutsche Autorenfil­merin spielte in „Ich war zu Hause, aber“mit Motiven aus ihrem eigenen Leben: Nach einwöchige­m Verschwind­en kehrt der 13-jährige Sohn einer Berliner Kulturscha­ffenden, deren Mann unlängst verstorben ist, zurück – ohne ein Wort zu sagen. Die Mutter (Maren Eggert) ist froh, ihn wiederzuha­ben. Doch der Vorfall befördert die Ausweitung eines schwelende­n Verlustgef­ühls, das ihren Alltag zersetzt. Der Film führt Schanelecs Ästhetik der Auslassung und Zartheit in neue, ungeahnte Sphären, ist mal still und mal redselig, mal furchtbar schmerzhaf­t und mal schreiend komisch, und oft auf berückende Weise rätselhaft. Man darf hoffen, dass Dieter Kosslicks Nachfolger, Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, solche Kinoenigme­n öfter ins Programm nehmen – dann wacht die müde Berlinale schnell wieder auf.

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