»Bald kommt der schwarze Mann zu dir«
Am Vorabend der nationalsozialistischen Machtergreifung drehte Fritz Lang seinen ersten Tonfilm. »M« zeigt die Massenhysterie in einer Stadt nach einer Serie von Kindermorden. Erinnerung an einen Filmklassiker anlässlich eines aktuellen Remakes.
Fritz Lang war schon berühmt als Stummfilmregisseur, als er 1930 an seinem ersten Tonfilm zu arbeiten begann. Er hatte dafür zusammen mit seiner Frau Thea von Harbou Informationen zu zeitgenössischen Serienmördern zusammengetragen. Die Erinnerung an Fritz Haarmann war noch frisch: Er wurde 1924 gefasst und in einem Sensationsprozess wegen siebenfachen Mordes verurteilt und hingerichtet. Das flackerte nun wieder auf, als ein neuer Serienmörder, Peter Kürten, Ende der 20-er Jahre die Stadt Düsseldorf achtzehn Monate lang in Atem hielt. Als Langs Drehbuch fertig war, war er noch nicht gefasst, bei der Premiere war er bereits zum Tode verurteilt. Der Film besaß also eine ungeheure Aktualität.
Kurz vor den Dreharbeiten kursierte eine Pressenotiz: Langs neuer Film habe den Arbeitstitel „Mörder unter uns“. Der Regisseur erhielt Drohbriefe und keinen Zutritt zum Studio. Verzweifelt fragte er den Produktionschef: „Aber woher diese unverständliche Verschwörung gegen einen Film über den Düsseldorfer Kindermörder Kürten?“Der sichtlich erleichterte Studioboss händigte ihm sofort die Schlüssel aus. Lang verstand jetzt. Er hatte zuvor das versteckte Parteiabzeichen am Revers des Mannes gesehen. „Mörder unter uns“: Die Nationalsozialisten fürchteten, sie seien gemeint. Kinder und Mülltonnen. „M“wurde am 11. Mai 1931 im Ufa-Palast am Zoo in Berlin uraufgeführt. Die Aufführung dauerte 117 Minuten. Mit einem Gongschlag beginnt der Film, noch ist die Leinwand leer. Die Zuschauer erkannten den Ton sofort: Damit wurde im Radio zur vollen Stunde die nächste Sendung angekündigt. Der Tonfilm, ein neues Medium, grüßt das andere noch neue Medium. Dann der Singsang eines Kindes, es ist ein Auszählvers: „Warte, warte, nur ein Weilchen ...“Lang lenkt in seinem ersten Tonfilm die Aufmerksamkeit also gleich auf die Tonspur. Das Kunstmittel wird sich ständig wiederholen: Der Regisseur spielt den Ton gegen das Bild aus. Man hört zuerst etwas und sieht es später.
Acht Minuten dauert dann das Vorspiel. Es baut einen städtischen
M (1931) Regie: Fritz Lang
Der Film, der den Untertitel „Eine Stadt sucht einen Mörder“erhielt, ist einer der ersten deutschen Tonfilmproduktionen. Die Hauptrolle verkörpert Peter Lorre. In allen Rankings der besten Filme nimmt er vordere Plätze ein, meist ist es die beste Platzierung für einen deutschen Film. Der österreichische Regisseur David Schalko drehte als Remake eine sechsteilige Fernsehserie. Sie wurde am 12. Februar 2019 bei der Berlinale gezeigt und ist am 17., 20. und 22. Februar 2019 im ORF zu sehen. Am 17. sieht man auch das Original von Fritz Lang. Raum auf, Kinder, spielend zwischen Abfalltonnen, ärmlich gekleidet und unbeaufsichtigt. Ein Raum, in dem die Katastrophe vorprogrammiert scheint. Man hört ihren makabren Auszählvers: „Bald kommt der schwarze Mann zu dir. Mit dem kleinen Hackebeilchen macht er Schabefleisch aus dir. Du bist raus!“Das Kind, das ausscheidet, tritt zurück, ahmt den Mörder nach, der in dieser Stadt überall Gesprächsstoff ist. Die Kinder sprechen das aus, was in der Luft liegt. Eine der Mütter plärrt dazwischen, die Kinder sollten aufhören mit dem „verdammten Mörderlied“. Im Spiel nehmen sie das vorweg, was gleich passieren wird. Frau Beckmann, deren Tochter Elsie das erste Opfer wird, antwortet: „Solang man sie noch singen hört.“Wenn es still wird, ist es unheimlich. Hört man Kinder, leben sie noch. Wieder spielt Lang also mit dem Thema Hören und Ton.
Ein Schatten, wohl der Schatten des Verbrechers, fällt unheilschwanger auf eine der Litfaßsäulen, er fällt genau auf den Steckbrief, der dort hängt. Man hört zuerst die Stimme des Mörders, er spricht das Mädchen Elsie an, noch bevor der Kinobesucher den Schauspieler Peter Lorre zu Gesicht bekommt. Das Vorspiel endet damit, dass man im leeren Treppenhaus die Mutter „Elsie“rufen hört, man sieht den unbenutzten Teller, den Ball und den Luftballon des Kindes. Elsie wurde ermordet.
Was passiert mit dem Mann, er heißt Hans Beckert, wenn er vom biederen Untermieter zum Triebtäter wird? Lang schafft hier bewusst keine Klarheit. Ist der psychisch Gequälte krank oder einfach ein Krimineller? Vom Zuschauer wird eigene Erkenntnistätigkeit und emotionale Auseinandersetzung verlangt. Er selbst muss den Detektiv spielen, mit scharfem Auge Indizien sammeln, denn eindeutig ist gar nichts. Man sieht den Verdächtigen nie bei der Tat, wir sehen auch kein Opfer am Boden liegen. Die Kamera erfasst den Täter wie zufällig, wenn er
»Mit dem kleinen Hackebeilchen macht er Schabefleisch aus dir!«
herumflaniert und kleine Mädchen anspricht. Dann rollt auf einmal ein Ball, mit dem das Kind spielte, allein ins Bild. Die Stille bedeutet Tod. „M“, das Stigma. Der Film ist gesättigt mit Geschichte, er konfrontiert mit der allgemeinen Brutalisierung durch den Weltkrieg und der Haltlosigkeit in einer instabilen Gesellschaft, mit der proletarischen Hinterhoftristesse in der Zeit der Weimarer Republik, mit unterernährten alleinerziehenden Müttern, die schwere Waschkörbe schleppen, und ihren verwahrlosten Kindern. Die Väter fehlen, sie sind im Krieg geblieben. Der Massenmord des Krieges liegt als immer lauernde Gewalt unsichtbar unter der Nachkriegsgesellschaft und erscheint in der Gestalt von Serienmördern. „’M’ macht die Unsichtbar-