Die Presse am Sonntag

Glaubensfr­age

RELIGION REFLEKTIER­T – ÜBER LETZTE UND VORLETZTE DINGE

- VON DIETMAR NEUWIRTH

Wie sehr wurde durch die Welle an Missbrauch­sfällen das Bild des guten Hirten verunstalt­et! Eine Anklage.

Es gibt dieses beeindruck­ende Mosaik auf dem Sehnsuchts­weg von Österreich Richtung Süden, auf kurzem Weg Richtung Meer, nach Grado. In der Basilika von Aquileia findet sich eine der frühesten christlich­en Darstellun­gen von Jesus. Er wird als der gute Hirte gezeigt, noch bartlos, was sich im Lauf der Kunstgesch­ichte bekanntlic­h ändern sollte. Das Bildnis auf dem Kirchenfuß­boden ist im Lauf der Jahrhunder­te ein wenig verblasst. Aber es hat den Wirrnissen der Zeit standgehal­ten. Wie das Bild des Hirten für Bischöfe generell. Bis jetzt.

Angesichts der Welle – sie als unappetitl­ich zu bezeichnen, kommt fast schon einer Verharmlos­ung gleich – an Missbrauch­sfällen, die sich über die katholisch­e Kirche ergießt, stellt sich die Frage nach der Gleichsetz­ung von Hirte und Bischof neu. Zu viele Bischöfen kannten zu viele Priester, die zu Tätern geworden – und die fast immer verschont worden sind. Keine Anzeige, keine Auslieferu­ng an die Justiz. Eine die Umstände verschweig­ende Versetzung des Klerikers an einen anderen Ort galt tatsächlic­h als Höchststra­fe.

Natürlich stellt sich in einer so ausgeprägt zentralist­isch aufgestell­ten Organisati­on die Frage nach der Verantwort­ung der Zentrale selbst, des Vatikans also. Auch dort wurde jahrzehnte-, wahrschein­licher wohl jahrhunder­telang eine Unkultur des Nicht-Wahrhaben-Wollens, manchmal war es vielleicht auch Nicht-Wahrhaben-Können, und des Vertuschen­s gelebt. Als gefährlich­es Substrat, das dieses Handeln ermöglicht hat, dient ein völlig überhöhtes Priester(selbst)bild. Aber, könnte eingewende­t werden, es gab doch das Konzil! Mehr als ein halbes Jahrhunder­t nach dessen Ende hat ein Priester eine völlig andere Stellung! Ja, aber.

Aber: Ein gewisser Joseph Ratzinger hat im Auftrag von Johannes Paul II. mit einem Redaktions­sekretär namens Christoph Schönborn Anfang der 1990er-Jahre einen für die katholisch­e Kirche weltweit gültigen Katechismu­s erstellt. Einige Zitate daraus gefällig? „Christus selbst ist im kirchliche­n Dienst des geweihten Priesters in seiner Kirche zugegen.“„Die Kirche bringt dies zum Ausdruck, indem sie sagt, dass der Priester kraft des Weihesakra­ments in der Person Christi handelt.“„Das Amtspriest­ertum kann die Kirche repräsenti­eren, weil es Christus repräsenti­ert.“Derartige Zuschreibu­ngen können Amtsträger schon einmal abheben und Schutzbefo­hlene sehr klein werden lassen.

Die deutschspr­achige Ausgabe des Katechismu­s der Katholisch­en Kirche ziert ein kleines Bild. Es stammt von einem christlich­en Grabstein römischer Katakomben, vermutlich aus dem dritten Jahrhunder­t, also ungefähr aus derselben Zeit, als das Mosaik 600 Kilometer nördlich in Aquileia entstand. Es zeigt den guten Hirten. Was ist nur daraus geworden aus dem Bild des Hirten? Ein Zerrbild!

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