»Nicht das Gute ist gut genug«
Theologe Matthias Beck spricht über die Zielgruppe seines neuen Buches »Was uns frei macht« und erklärt, warum die Ethik des Christentums eine komparative Ethik ist und es darin primär nicht um das Kreuz, sondern um die Auferstehung geht. Fehlenden Tiefga
In einer schweren Lebenskrise zu Gott zu finden ist etwas anderes, als zu Gott zu finden. An wen richtet sich Ihr aktuelles Buch? Matthias Beck: An jeden Menschen, der auf der Suche nach einem erfüllten Leben ist. Der Mensch darf zu seiner eigenen Größe heranwachsen. Das führt zum Staunen über den Menschen und den letzten Seinsgrund, also Gott. Dies ist ein erster Zugang zur Philosophie. Karl Jaspers sagte: Heute ist es womöglich eher die Verzweiflung, die den Menschen nachdenken lässt. Was sagt das über die Zielgruppe Ihres Buches aus? Das Buch richtet sich auch an Menschen, die vielleicht etwas einseitig erzogen wurden. Damit meine ich: Wir haben in der christlichen Theologie viele Negativaussagen, die auch in den Zehn Geboten zu finden sind. Du gehst in die Messe, und gleich hörst du: Meine Schuld. Aber was ist das Positive am Christentum und am Leben? Darum geht es mir. Wir müssen eine positive Ethik entwickeln. Gerade das Neue Testament hat in dieser Hinsicht viele Antworten. „Du sollst Frucht bringen. Du sollst mehr Frucht bringen, du sollst und darfst aus fünf Talenten zehn machen.“Hier daher eine These: Eigentlich ist die Ethik des Christentums eine komparative Ethik. Nicht das Gute ist gut genug – du kannst Neues hinzugewinnen, Besseres. Das Buch richtet sich an alle, die sich für das Leben in Weite und Größe interessieren. Wer würde sich nicht für dieses Leben interessieren? Daher ist wichtig, sich nicht nur äußerlich für Religion zu interessieren wie für Mathematik. Es wäre gut, sich für sich selbst zu interessieren, da taucht die religiöse Frage von selbst auf. Das klingt weich, soft, fast beliebig. Erreichen Sie damit konservative Christen? Ja, letztens wurde ich gefragt: „Aber wo bleibt das Kreuz?“Ich sagte: Im Christentum geht es primär nicht um das Kreuz, sondern um die Auferstehung. Der Karfreitag ist ein Durchgangsstadium ins neue Leben. Das Positive muss an erster Stelle sein. Das erinnert an einen Lebensratgeber, der wohl auch ohne das Christentum auskommen würde . . . Wozu Religion, fragen Sie? Gute Frage. Der Mensch ist von sich aus auf das Absolute ausgerichtet, so hat es Hegel gesagt. Er hält Ausschau nach dem ganz Anderen. Er braucht eine Kraftquelle, die seine Kraft übersteigt. Ein Baum wächst auch von selbst, nimmt seine Nahrung aber von woanders: vom Boden, der Sonne, dem Wasser usw. Jeder braucht eine Kraftquelle, die von woanders kommt. Braucht es mehr Selbstkritik in der Kirche? Auch das. Wenn man jemandem vorwirft, dass das, was er sagt, nicht katholisch sei, erwidere ich oft: Jesus war auch nicht katholisch. Jesus war Jude. Was er sagt, ist sehr anspruchsvoll. Seinem Wort sollen wir folgen und viele Menschen mitnehmen. Lange Zeit haben Teile des Christentums Angst verbreitet. Das funktioniert heute nicht mehr. Christentum ist Freude, Frieden, Leben, Weite. Angst – war das vielleicht der ursprüngliche Zweck der Religionen? Einer der Zwecke des Religiösen war wohl auch das „Zügeln“der Menschen. Menschen sind nicht nur gut. Der Mensch missbraucht seine Freiheit. Daher wollte man Menschen mit Angst in Schach halten. Das geht heute kaum
1956
wurde Matthias Beck in Hannover geboren.
Seit 2007
ist Beck außerordentlicher Universitätsprofessor für Moraltheologie und Medizinethik an der Universität Wien. Er studierte Pharmazie und Humanmedizin sowie Philosophie und römisch-katholische Theologie. Er ist unter anderem Mitglied der Päpstlichen Akademie für das Leben (Pontificia Academia Pro Vita) und der österreichischen Bioethikkommission sowie Autor zahlreicher Bücher im Grenzgebiet von Naturwissenschaft, Medizin, Philosophie und Theologie.
Ende 2018
erschien sein aktuelles Buch „Was uns frei macht. Für eine Spiritualität der Entfaltung“(160 Seiten, 20 Euro) im Styria-Verlag. noch. Heute sind andere Fragen dran: Wie findet der Mensch seinen Selbststand, sein Gottvertrauen, seine Berufung? Der Titel „Was uns frei macht“erinnert an den Schriftzug über dem Eingang von Konzentrationslagern, „Arbeit macht frei“. Daran habe ich gar nicht gedacht. Das wäre ja zynisch. Der Titel, den ich wollte, steht auf der Rückseite und lautet: „Befreit zum Selbstsein.“Das klang manchen zu philosophisch. Ich finde, die jetzige Lösung ist gut und passt gut zum Cover mit den aufsteigenden Ballons. Ich vergleiche das gern mit einem Luftkissenboot, das über das Wasser schwebt. Petrus geht über das Wasser, das ist ein Bild für den Glauben: Hast du eine feste innere Lotung, brauchst du keinen äußeren Haltestrick mehr. „Für eine Spiritualität der Entfaltung“, heißt es im Untertitel. Ist der von Ihnen? Ja, allerdings wollte ich zunächst schreiben: „Für eine Ethik der Entfaltung.“Nach Beratungen mit dem Verlag meinte dieser, Ethik klinge so wissenschaftlich, und es werde damit eher Negatives – „Du sollst nicht“– verbunden. So einigten wir uns auf „Spiritualität“. Danach suchen die Menschen. Inhaltlich ist es ebenso stimmig: Es geht um das Zusammentreffen von Ethik und Spiritualität, um das Innenleben, um Glaube, Hoffnung, Liebe. Das Christentum soll Halt geben, nicht festbinden. Jesus war innerlich ganz angebunden und dadurch den Menschen gegenüber ganz frei. Für die Jugend: Er war ein „lässiger“Typ. Sie schreiben, das Schlimme an der Sünde sei, dass der Mensch sich selbst verfehle und sich und Gott so etwas schuldig bleibe. Sei man ehrlich zu sich, sei Vergebung erreichbar. Haben Buße und Beichte ausgedient? Es gehen heute wohl weniger Men- schen zur Beichte. Wenn sie zu mir kommen, führe ich oft vorher ein, zwei Gespräche. Dabei zeigt sich, dass die Ursache von Schuld oft in Dingen liegt, die die Menschen nicht vermuten. Sie kann etwa darin liegen, dass ich mich nicht von meinen Eltern gelöst habe, dadurch in meinem Leben blockiert und unglücklich bin und deshalb Fehler gemacht habe. Durch viele Fehler verfehlen wir unser Leben. Es braucht die Beichte, weil der Mensch das, was er falsch gemacht hat, aus eigener Kraft nicht wiedergutmachen kann. Ich sehe also meine Fehler ein, und alles ist wieder gut? Ganz so einfach ist es nicht. Es kann sein, dass jemand am Ende seines Lebens zurückschaut und zum Ergebnis kommt, sein Leben vertan zu haben. Ich habe Derartiges im Krankenhaus erlebt. Es ist nichts mehr rückgängig zu machen. Hier setzt die Beichte ein: Gott allein kann aus dem verkorksten Leben etwas machen, wenn jemand ehrlich bereut. Deshalb ist die Beichte ein großartiges Instrument, das die Psychotherapie so nicht leisten kann. Für die Conclusio „Sei mit dir im Reinen, dann geht’s dir gut“braucht es doch keine Religion . . . Das stimmt nur bis zu einem gewissen Grad. Dostojewski weist darauf hin: Wenn es keinen Gott gibt, ist alles beliebig. Das ist das Erste: die Letztverantwortung, sich endgültig verantworten zu müssen. Und das Zweite: Der Jenseitsglauben entspricht der Sehnsucht des Menschen. Er sehnt sich nach Bleibendem – vor allem, wenn er mit dem Tod naher Angehöriger konfrontiert ist. Er will nicht, dass alles im Nichts endet. Die Religion kommt dieser Sehnsucht des Menschen entgegen. Wenn Gott Mensch geworden ist, muss das Menschliche dem Göttlichen ent- sprechen, und zugleich übersteigt das Göttliche das Menschliche. Ist das nicht etwas, sagen wir, billig? Glaube ich nicht. Die letzte Dimension bringt sowohl den Ernst der Verbindlichkeit, als auch die Freude auf Zukünftiges ans Licht. Das würde bedeuten: Nur Gläubige führen ein erfülltes Leben. So einfach kann man es nicht sagen. Aber ich meine, dass dem Menschen ohne den Glauben an den guten Gott etwas fehlt. Glauben meint dabei nicht das Auswendiglernen von Sätzen und Geboten, sondern das Grundvertrauen, dass ich mich jemandem ganz anvertrauen kann. Durch falsch vermittelte Gottesbilder kann Leben auch blockiert werden. Søren Kierkegaard ortet den Grund, „warum der Mensch eigentlich am Christentum Ärgernis nimmt, darin, dass es zu hoch ist [. . .], weil es den Menschen zu etwas Außerordentlichem machen will“. Ist der Mensch zu Außergewöhnlichem überhaupt fähig? Herrscher hielten sich oft selbst für das Größte. Das ist die falsche Seite. Der Mensch soll vergöttlicht werden, aber genau umgekehrt: Aus der Bescheidenheit, aus Gott heraus kann der Mensch außergewöhnlich werden. Gott will aus jedem das Beste herausholen. Vier abgeschlossene Studien wie bei Ihnen können nicht die Norm sein. (lacht) Jeder hat seine Talente, ich werde nie ein Pianist werden. Ich glaube, wir haben zu viel Mittelmaß, daraus entstehen Orientierungslosigkeit und oft schlechte Entscheidungen. Meine These: In einer Welt der Computerisierung und Oberflächlichkeit brauchen wir vertiefte Bildung, mehr Philosophie, Theologie, Psychologie, mehr Reflexion. Fehlender Tiefgang ist gefährlich.