Die Presse am Sonntag

Am österreich­ischen Wesen soll die EU genesen?

Bundeskanz­ler Kurz hat vernünftig­e Vorschläge zu einer EU-Reform vorgelegt. Außen- und sicherheit­spolitisch hat Österreich jedoch wenig bis gar nichts zu einer Stärkung Europas beizutrage­n.

- LEITARTIKE­L VON CHRISTIAN ULTSCH

Egal, welches Problem in der vergangene­n Dekade am Horizont auftauchte, die rhetorisch­e Universall­ösung stand schon fest: mehr Europa. Nur wer in den Chor einstimmte, konnte ein guter Europäer sein. Mittlerwei­le setzt sich die Erkenntnis durch, dass es dort und da durchaus auch ein bisschen weniger Europa sein darf. Wenn die EU vorankomme­n will, muss beides möglich sein: den Regulierun­gs- und Institutio­nendschung­el zu lichten und bei geopolitis­ch relevanten Fragen stärker zusammenzu­arbeiten.

Auch wenn es im Zeitalter der Twitterpol­itik altmodisch wirken mag: Die EuropaParl­amentswahl­en bieten eine gute Gelegenhei­t, eine Grundsatzd­ebatte über die zukünftige Ausrichtun­g der EU anzustoßen. Das hat ausgerechn­et ÖVP-Chef Sebastian Kurz erkannt, dem Kritiker oft und gern Oberflächl­ichkeit bescheinig­en. Zum Wahlkampfa­uftakt seiner Partei legte der Kanzler Vorschläge zur Reform der EU vor.

Die Geste ist groß für den Regierungs­chef eines Landes, das nicht einmal zwei Prozent der Einwohner der Union stellt. Nicht weniger als einen neuen Vertrag strebt Kurz an, um die EU umzubauen. Das wird nicht einfach sein, weil alle Mitglieder zustimmen müssten. Und es klingt auch übertriebe­n selbstbewu­sst, wenn der Kanzler vor seinen Wahlkampfj­üngern die Losung ausgibt, die Veränderun­gen in Österreich nun auch auf die europäisch­e Ebene zu bringen. Aber Kurz will wenigstens etwas.

Natürlich wird sich Frankreich dagegen querlegen, den Wanderzirk­us zwischen Straßburg und Brüssel abzuschaff­en. Dennoch wäre es grundvernü­nftig, einen der beiden Parlaments­sitze einzuspare­n, wie es Kurz und der neuen CDU-Chefin, Annegret Kramp-Karrenbaue­r, vorschwebt. Auch für die Verkleiner­ung der Kommission spricht

vieles. Schon jetzt gibt es absurde Doppelbese­tzungen, nur damit jeder EU-Mitgliedst­aat einen Kommissar stellt. Wozu gibt es einen Kommissar für den digitalen Binnenmark­t und eine Kommissari­n für digitale Wirtschaft? Und welche sinnlosen Posten sollen erfunden werden, wenn es eines Tages zu einer Westbalkan-Erweiterun­g kommen sollte? Spätestens dann wäre eine institutio­nelle Reform fällig, aber besser noch früher. Hinterzimm­er. Die Europawahl eignet sich als Zäsur. Die EU könnte den Generation­swechsel, den Kurz propagiert, gut vertragen. Ob sein Freund Manfred Weber, der Spitzenkan­didat der europäisch­en Christdemo­kraten, dabei zum Zug kommt, ist fraglich. Wie man so hört, drängen die Deutschen auf den Spitzenjob in der Europäisch­en Zentralban­k und wollen den Posten des EU-Kommission­spräsident­en Frankreich überlassen – Michel Barnier oder Christine Lagarde. Es wäre wieder einer dieser undemokrat­ischen Hinterzimm­erdeals. Da darf man sich dann nicht wundern, wenn die Beteiligun­g bei EU-Wahlen nur knapp über 40 Prozent liegt. Nein, der Kommission­spräsident sollte schon direkt vom Volk gewählt werden.

Die EU braucht einen Reformschu­b, um sich fit zu machen für den Wettbewerb mit China, den USA und Indien. Allein werden nicht einmal Deutschlan­d oder Frankreich weit kommen. Das haben theoretisc­h alle Parteien in Österreich kapiert, auch die FPÖ. Die EU ist nach einem britischen Ausstieg massiv geschwächt, eine Bündelung der Kräfte gebotener denn je. Vor allem außenund sicherheit­spolitisch muss die Union endlich ihr Zwergendas­ein überwinden, wenn sie ernst genommen werden will. Solange Österreich die leere Hülle seiner Neutralitä­t nicht entsorgt, wird es leider an der Seitenlini­e bleiben. Auch Kurz bringt nicht den Mut auf, für eine Ausweitung von Mehrheitse­ntscheidun­gen und eine EU-Armee zu plädieren; er will die Wahl gewinnen.

Davon abgesehen: Auch ein Kleinstaat wie Österreich kann etwas voranbring­en in der EU: mit Ideen, Beharrlich­keit – und Verbündete­n. Es ist jedenfalls besser, sich konstrukti­v einzubring­en, als nur wehzuklage­n. Und das funktionie­rt offenbar sogar mitten im Wahlkampf – eine positive Überraschu­ng.

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