Gestohlene Geschichte
Das in Museen gehütete globale Erbe ist oft keines, sondern dubiosen Ursprungs, aus Kolonien geraubt oder von Sklavenhändlern hergeschafft.
Vor 12.000 Jahren starb im heutigen Chile ein Riesenfaultier (Mylodon darwinii), viel blieb erhalten, es schmückt ein halbes Dutzend Naturkundemuseen in Europa, vor allem das in London. Wie lang noch? Chile fordert von den Briten zurück, was 1890 ohne viel Federlesens aus dem Land geschafft wurde, und das ist nicht der einzige Restitutionsanspruch an das Museum for Natural History, Gibraltar will einen Neandertaler, Sambia einen 300.000 Jahre alten Schädel eines Homo heidelbergensis.
Und im Naturkundemuseum von Berlin lockt Giraffatitan brancai, der größte weltweit ausgestellte Saurier – 26 Meter lang, neun hoch –, er kam zwischen 1909 und 1913 mit einer Fuhre von 225 Tonnen Fossilien aus dem heutigen Tansania, damals gehörte es zu Deutsch-Ostafrika, die Kolonialherren schickten nicht nur Truppen, sondern auch Paläontologen, die sich von Ortskundigen leiten ließen, nicht nur zum Riesensaurier, dessen Knochen kultischen Zwecken dienten, sondern auch zu einem, den man Nyororosaurus nannte, weil der örtliche Guide Nyororo hieß. Der Name blieb nicht lang, man taufte in Dicraepsaurus sattleri um, nach einem Deutschen, der sich von Nyororo hatte führen lassen.
In solche Details verästelt sich, was Holger Stöcker, Afrika-Experte der Berliner Humboldt-Universität, der der Geschichte der Ostafrika-Expeditionen nachgegangen ist, generell so zusammenfasst: „Naturhistorische Museen, wie wir sie kennen, gäbe es ohne den Kolonialismus nicht“(Science, 27. 3.).
Und ohne den Sklavenhandel gäbe es sie auch nicht: Die Terra incognita wurde nicht nur von Abenteuern wie Cook und Forschern wie Humboldt und Darwin erhellt – oft im Dienst bzw. mit Geld des Militärs –, da gab es auch James Petiver, der um 1700 Apotheker und Naturforscher in London war. Er verließ die Stadt kaum, hatte aber Dutzende Kapitäne und Schiffsärzte unter Vertrag, viele waren im Sklavenhandel tätig, der vom 16. bis ins 19. Jahrhundert mindestens zehn Millionen Afrikaner auf die Schiffe nach Amerika prügelte, die Hälfte überlebte nicht.
Der Handel ging im Dreieck – Waffen und Textilien aus Europa zum Bezahlen der Sklaven in Afrika, Naturalien aus Amerika für Europa, Zucker vor allem –, und er war lang die Verbindung zwischen den Kontinenten. Petiver ließ sich mit Nützlichem versorgen – Arzneien wie Chinarinde, Farbstoffen wie Indigo –, aber auch mit Kuriositäten, Pflanzen, Tieren, Mineralien. All das hinterließ er Hans Sloane, der als Privatmann durch Heirat in eine mit Sklavenhandel befasste Familie reich geworden war und als Forscher die Nachfolge Newtons als Präsident der Royal Society angetreten hatte, die selbst in den Sklavenhandel investierte. Alles zusammen wurde zum Grundstock des British Museum, Teile gingen dann ins Naturhistorische, Wissenschaftshistorikerin Kathleen Murphy (California Polytechnic State University) hat an diesem Beispiel das von der Forschung lang ignorierte Erbe der Sklaverei bzw. seine Last gehoben (Science, 5. 4.). Raubgut aus Benin. Auch in anderen Metropolen füllten sich erst Kuriositätenkabinette und dann Museen, oft auch mit Resten von Menschen, oft auch mit Kunst bzw. Kultobjekten. Die Debatte über Letztere ist alt, sie wurde zunächst in Europa geführt – etwa über die Elgir Marbles, Teile der Akropolis, die auf gewundenen Wegen ins British Museum kamen –, sie erhielt gerade neuen Schwung durch Raubgut aus Benin, heute Teil von Nigeria: Das holländische Museum für Weltkulturen ließ Mitte März wissen, es werde 139 Statuen zurückgeben, Frankreichs Präsident, Emmanuel Macron, verfügte letzten Herbst, dass das Musee´ du Quai Branly in Paris es mit 26 Objekten tun soll, er regte zugleich für das Frühjahr eine internationale Konferenz über die Rückgabe afrikanischer Kulturgüter an (davon hörte man seitdem nichts).
Andere sind restriktiver, vor allem das British Museum ist es, das 70.000 Objekte aus dem Afrika südlich der Sahara beherbergt, und Schätze, die von noch weiter herkommen, etwa eine der Steinfiguren – Moai – der Osterinseln, sie heißt ganz offiziell Hoa Haknananai’a, zu Deutsch: „Verlorener oder gestohlener Freund“. Letzten Herbst hat der Gouverneur der Osterinseln sie für deren Indigene, die Rapa Nui, zurückgefordert, in diesem Fall hat das Museum Verhandlungen angeboten.
Soll man zurückgeben, muss man zurückgeben? Manches, alles? Und an wen? Die heikelsten Fälle sind die von ganz anderen verlorenen oder gestohlenen Freunden: die von Ahnen, etwa der Indigenen Nordamerikas oder der Aborigines Australiens. Erstere wurden fast ausgerottet, Letztere litten noch in den 1970er-Jahren unter einem Rassismus, der Tausenden die Kinder wegnahm und sie in Heime verfrachtete oder Weißen zur Adoption gab, sie werden als „stolen generation“betrauert.
Noch weiter weg kamen viele ihrer Ahnen, deren Reste in irgendwelchen Museen lagern, mit Zetteln, auf denen oft nichts anderes steht als „aboriginal“. Dann kann, bisweilen, die Genetik helfen, zum einen ganz aktuell, zum anderen durch die Rekonstruktion der Einwanderung.
Chile will von London ein Riesenfaultier zurück, Gibraltar einen Neandertaler. Am schwierigsten ist die Zuordnung von Resten von Ahnen zu heutigen Erben.
Die begann in Australien vor 50.000 Jahren, die Menschen verteilten sich über den Kontinent, zogen dann aber nicht weit herum. Ganz anders war das bei den Indigenen Amerikas, es machte Probleme etwa beim Streit darüber, wo Kennewick Mann seine wirklich letzte Ruhe finden sollte: Er lebte bzw. starb vor 8500 Jahren Jahren im Bundesstaat Washington, 1996 fand man ihn; nach langem Streit wurden seine Gene analysiert, eine eindeutige Zuordnung zu heutigen Indigenen boten sie nicht, Verwandtschaft zeigte sich sowohl in Alaska als auch in Südamerika (bestattet wurde Kennewick Man bei den ihm genetisch Nächsten, den Colville, an einem geheim gehaltenen Ort im Columbia-Plateau, Oregon).
In Australien können Zuordnungen gelingen, weil die Clans ortsfest blieben, David Lambert (Griffith University) hat sich um die Restitution verdient gemacht (Science Advances 4:eaau5064): Im Vorjahr konnte er zehn Individuen aus Museen in engste Verbindung mit Erben bringen, die sich nach sorgsamen Verhandlungen zu Gentests bereiterklärten (das Misstrauen war groß, weil frühere Gendaten für nicht autorisierte Zwecke verwendet worden waren): Damit gelang, was Aborigines „returning to country“nennen, und wenn es wie bei „Mungo Man“und den Yiyindi gelingt, dann „springt man vor Freude“, berichtet deren Ältester, Gudju Fourmile (Nature, 18. 4.).