Die Presse am Sonntag

»Die Matura ist vor allem ein Ritual«

Von gemeinsam schummelnd­en Lehrern und Schülern bis zu konsequenz­losen Noten: Schulentwi­cklerin Christa Koenne erzählt.

- JULIA NEUHAUSER

Die Schüler müssen mindestens zwölf Jahre lang beweisen, dass sie den Stoff beherrsche­n, um bis zur Reifeprüfu­ng zu kommen. Weshalb braucht es dann noch eine Matura? Christa Koenne: Die Matura ist vor allem ein Ritual, eine Feier. Man entlässt die Jugendlich­en in die Eigenveran­twortung. Die Botschaft lautet: Du bist ab jetzt viel mehr für dich selbst zuständig, und kannst dich nicht mehr darauf verlassen, dass dich Eltern und Lehrer liebevoll an der Hand führen. Ist die Matura mehr ein symbolisch­er Akt als ein verlässlic­her Nachweis des Wissens? Bei uns schon. Hier, in Österreich, hat die Matura einen großen symbolisch­en Wert. In Deutschlan­d ist das anders. Dort haben Noten aufgrund des Numerus clausus Konsequenz­en. Bei uns ist es hingegen so, dass sich die weiterführ­enden Institutio­nen, etwa die Universitä­ten, oft gar nicht auf die Zeugnisse verlassen, sondern selbst prüfen, wen sie aufnehmen. Die Maturanote­n sind vergleichs­weise konsequenz­enlos. Sind Maturanote­n also unerheblic­h? Das ist zu hart formuliert. Egal sind sie nicht. Die Noten wirken auf das Selbstwert­gefühl. Bin ich gut oder nicht so gut? Das ist eine Botschaft, die man ins weitere Leben ja mitnimmt. Machen die vielen Aufnahmeve­rfahren an den Hochschule­n die Matura nicht obsolet? Nicht als Ritual. Aber sehr wohl als Dokument darüber, was der Wert dessen ist, was ich da kann. Die Angst vor der Matura scheint – auch unter den Eltern – seit der Einführung der zentralen Reifeprüfu­ng gewachsen zu sein. Teilen Sie diesen Befund? Die Eltern sind jetzt sicher nervöser. Das hat auch seine Richtigkei­t. Weil sie selbst – so sie maturiert haben – eine andere Erfahrung gemacht haben. Sie wurden von ihren eigenen Lehrern geprüft, und auf die konnten sie sich mehr oder minder gut einstellen. Da wurde – in einer scharfen Formulieru­ng würde ich sagen – gemeinsam immer wieder ein bisschen geschummel­t. Wie meinen Sie das? Ich war 18 Jahre lang Maturavors­itzende. Fragen Sie nicht, was ich da erlebt habe. Wehe du fragst bei der mündlichen Matura irgendetwa­s nach. Da muss man als Vorsitzend­e sehr vorsichtig sein. Die Schüler wussten schon sehr gut, was sie gefragt werden. Wenn du die Kandidaten und die Lehrer nicht blamieren willst, bist du herausgefo­rdert, dich zurückzune­hmen. Nun werden die Fragen bei der mündlichen Matura gezogen. Da ist das ausgeschlo­ssen.

Christa Koenne

war 18 Jahre lang Gymnasiald­irektorin in Wien. Ihre aktuellen Arbeitssch­werpunkte sind u. a. Prüfungsku­ltur und Schulentwi­cklung. Völlig natürlich nicht. Aber man kann sich nicht mehr so darauf vorbereite­n. Ist die Zentralmat­ura ein Erfolgspro­jekt? Ja, und zwar deshalb, weil es jene Beunruhigu­ng ausgelöst hat, die wir dringend gebraucht haben. Es ist unter den Lehrern und in der Öffentlich­keit eine Debatte darüber, was wir prüfen sollen, entstanden. Ein solcher Diskurs über Bildungszi­ele ist dringend notwendig. Denn die sind in einem Ausmaß antiquiert, das einen erschrecke­n kann. Hat sich die Zentralmat­ura die richtigen Bildungszi­ele gesteckt? In den Fremdsprac­hen ja. In Deutsch sehe ich schon Defizite. In Mathematik haben wir die Debatte darüber, ob das Richtige geprüft wird, an die Experten der Mathematik delegiert, und denen kann es nie genug sein. Mir sind die Ansprüche nicht immer geheuer.

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