Die Presse am Sonntag

»Geschichte hängt oft von Dummheit ab«

Der britische Historiker und Russland-Experte Orlando Figes macht sich Sorgen: Im rechten politische­n Lager ortet er Rassismus und Nationalis­mus, im linken Intoleranz und Kritikunfä­higkeit. Dennoch hofft er weiter auf die Kraft der Vernunft und des Intern

- VON GABRIEL RATH

In Ihren Büchern über die Geschichte Russlands haben Sie den Menschen eine Stimme verliehen. Was lernen wir, wenn wir Geschichte aus dieser persönlich­en Perspektiv­e erzählen? Orlando Figes: Es ist wichtig, Geschichte nicht nur als Abfolge von Ereignisse­n zu begreifen, sondern auch in ihrer individuel­len Erfahrung. Was die Menschen aus Ereignisse­n machen, wie sie damit umgehen, welche Position sie wählen, wie sie im Nachhinein verstehen, was eine Gesellscha­ft getan hat, deren Teil sie waren. Ich bemühe mich immer, Geschichte in einer Form zu schreiben, die auch ihre emotionell­e Bedeutung darstellt, nicht nur Kausalität, objektive historisch­e Kräfte und anonyme Kollektive. Gibt es objektive historisch­e Kräfte überhaupt – oder ist Geschichte am Ende menschenge­macht? Es gibt historisch­e Kräfte. Aber oft hängt Geschichte einfach von Fehlern, Zufällen oder – ziemlich oft – Dummheit ab. In einer Gesellscha­ft wie der des Stalinismu­s, aber ebenso im Nationalso­zialismus, gibt es Opfer und Täter. Wie überlebt man mit diesem historisch­en Ballast? Oft waren es Zufall, Glück, ein Talent, eine Fügung. Viele sagen, was ihnen die Kraft zu überleben gab, war moralische Unterstütz­ung, das Wissen, dass es vielleicht einen Menschen gab, der wartete. Von unendlich vielen, die kein Glück hatten, fehlt uns jede Spur. Und nach der Befreiung? Die Sowjetunio­n bestand nach dem Tod Stalins noch fast 40 Jahre weiter, die Opfer kehrten zurück und lebten Tür an Tür mit den Tätern. Einer der Gründe, warum so viele sich nach der Befreiung so schwer taten und oft aufgaben, war nicht nur, dass sie körperlich und seelisch traumatisi­ert waren, sondern, dass sie niemanden hatten, der sie verstand. Jahrzehnte­lang wurde darüber der Mantel des Schweigens gebreitet. Erst in den späten 1980er-Jahren organisier­ten Gruppen wie „Memorial“öffentlich­e Anhörungen. Da kam es zu Situatione­n, wo sich ein Denunziert­er und ein Denunziant im selben Raum befanden. Interessan­terweise führte das selten zu Konfrontat­ionen, vielmehr gab es einen gewissen Konsens, dass unter Stalins Terror jeder in gewisser Hinsicht ein Opfer war. In einem Reich des Bösen gibt es eine Korrumpier­ung aller Werte und Beziehunge­n, und Handlungen werden, wenn schon nicht entschuldb­ar, so doch in einem gewissen Maß verständli­ch. Sie haben vor einem „moralische­n Relativism­us“in Bezug auf den Kommunismu­s gewarnt. Wir sehen auf beiden Seiten eine Rückkehr der Extreme. Aber es gibt die Wiederkehr einer Art von „schickem Kommunismu­s“, die auf einem eklatanten Mangel an Geschichts­kenntnis beruht. Ich glaube, es geht darauf zurück, dass insbesonde­re auf der linken Seite bis heute die Russische Revolution als gescheiter­ter Versuch eines noblen Unterfange­ns gesehen wird. Ich lehne jede Art von moralische­m Vergleich zwischen Faschismus und Kommunismu­s ab, das ist sicher nicht hilfreich. Stattdesse­n müssen wir Stalinismu­s in sich selbst verstehen. Das System, das 1917 in Russland etabliert wurde, endete 1991. Ein Mann, der lebenslang Kommunist blieb, war der Historiker Eric Hobsbawm. Er sagte: „Wieder ist die Zeit gekommen, Marx ernst

1959

in London geboren, seine Mutter ist die Schriftste­llerin und Feministin Eva Figes.

Professor

für russische Geschichte am Birkbeck College, University of London. Figes ist einer der führenden Kenner des Landes. Werke wie „Die Tragödie eines Volkes“, „Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland“oder „Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne“wurden in mehr als 30 Sprachen veröffentl­icht. In Russland sind seine Bücher verboten.

Ende September 2019

erscheint sein neuestes Buch, „The Europeans“. Es schildert das Verhältnis des russischen Schriftste­llers Iwan Turgenjew mit dem Ehepaar Pauline und Louis Viardot und die Entstehung einer paneuropäi­schen Kultur. zu nehmen.“Der Marxist Jeremy Corbyn scheint an der Schwelle zur Downing Street zu stehen, sein Schatzkanz­ler John McDonnell nennt als liebste Freizeitbe­schäftigun­g das Anzetteln von Revolution­en. Sind Sie beunruhigt? Ich weiß nicht, was für Marxisten Corbyn und McDonnell sind. Worüber wir aber definitiv besorgt sein müssen, ist die Rückkehr von politische­m Extremismu­s. Überall sehen wir das Erstarken von Nationalis­mus und Rassismus auf der Rechten, und auf der Linken von Kräften, die intolerant, kritikunfä­hig und – im Fall der Labour Party – antisemiti­sch sind. Wir leben in besorgnise­rregenden Zeiten. Sind sie eine Rückkehr der 1930er-Jahre? Nein. Das wäre eine Übertreibu­ng. Aber wir erleben einen Zusammenbr­uch des Internatio­nalismus, der Toleranz und des Vertrauens in die Politik. Die Gefahr besteht, dass sich Massenbewe­gungen andere Formen der Artikulati­on suchen als jene der repräsenta­tiven Demokratie. Sind diese Entwicklun­gen ein Ergebnis oder ein Fehler der Globalisie­rung? Es ist einfach, Globalisie­rung für alles verantwort­lich zu machen, was schiefgega­ngen ist. Die Wahrheit aber ist: Wir können die Globalisie­rung nicht rückgängig machen. Sie geschieht seit Langem und wird weitergehe­n. Es wird weniger Jobs geben, die Technologi­e wird weitere Veränderun­gen bringen und die Frage ist, wie die Politik darauf reagiert. Was ich fürchte: Allzu leicht erliegt die Politik der Versuchung, Angst zu schüren, Hass zu entfachen und simple Lösungen zu verspreche­n. Sie haben sich einmal als „eine Art von Blair Man“bezeichnet. Der frühere britische Premiermin­ister wollte eine Versöhnung von Kapitalism­us und Sozialismu­s. Was ist aus diesem Dritten Weg geworden? Er ist offensicht­lich versandet. Aber ich glaube immer noch an die Kraft des Internatio­nalismus und die Fähigkeit von Vernunft und Aufklärung, Angst, Hass und Polarisier­ung zu überwinden. Wenn wir diesen Glauben verlieren, können wir gleich aufgeben. Wie kann dieser Glaube gestärkt werden? Nun, das ist schwierig, nicht wahr? Wir haben nicht nur politische und wirtschaft­liche Herausford­erungen. Wir haben auch Probleme wie Klimawande­l und Massenmigr­ation. Das sind drängende Fragen, und die Suche nach Vernunft und Verständig­ung kann manchmal einfach zu lang dauern. Der Brexit wird als Revolte der Benachteil­igten und Verlierer gegen die herrschend­e liberale Elite verstanden. Doch die BrexitAkte­ure sind vorwiegend wütende weiße Männer um die 50, die sich als revolution­äre Organe zu verstehen scheinen. Was treibt diese Vertreter der besseren Gesellscha­ft? Es gibt ein Bündel von Gründen, aber ganz oben stehen Alter, Bildung und Geschichte: Menschen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, wählten fast geschlosse­n den EU-Verbleib. Jene, die mit den Kriegsfilm­en der 1960erund 1970-er Jahren aufwuchsen, stimmen mehrheitli­ch für den Austritt. Diese ganze patriotisc­he Nostalgie, verwoben mit „our finest hour“. . . Großbritan­nien hat eine falsche Sicht seines Platzes in der Welt, beruhend auf dem Mythos, dass wir Europa befreit hätten. Europa ist immer „der Andere“oder „der Fremde“gewesen. Die Briten haben sich nie wirklich europäisch gesehen, sondern arrogant für überlegen gehalten. Die historisch­en Wurzeln des Brexit sind eine Art imperialer Kater aus einem Gefühl der Überlegenh­eit und des Nichtdazug­ehörens gegenüber Europa. . . . woher Ihre Faszinatio­n für Russland kommt? Ich wurde sozusagen darauf gestoßen. 1983 war ich erstmals in Russland und ich war gleich gefesselt. Heute bin ich von der politische­n Entwicklun­g zutiefst enttäuscht, besonders, wenn man bedenkt, was Anfang der 1990er-Jahre möglich schien. . . . wie es sich anfühlt, die deutsche Staatsbürg­erschaft zu besitzen? Ihre Mutter war Jüdin und ist 1939 aus Berlin geflüchtet. Gut. Ich sehe das vor allem als einen zweckmäßig­en Schritt. Ich wollte kein Brexit-Brite sein, und mit dem deutschen Pass bleibe ich Europäer. Die deutsche Staatsbürg­erschaft hat für mich nichts mit Wiedergutm­achung oder Vergangenh­eitsbewält­igung zu tun . . . . welches Buch Sie für das 21. Jahrhunder­t empfehlen würden? Das wäre wohl Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern“. Das prägt dann wohl auch die Haltung gegenüber Fremden? Ich würde es so formuliere­n: Nicht alle Brexit-Wähler waren Rassisten. Aber alle Rassisten stimmten für den Brexit. Sie haben Bildung herausgest­richen. Großbritan­nien ist ein Land, das weltweit führende Forscher hervorbrin­gt und zugleich in der Massenerzi­ehung zu versagen scheint. Das ist unsere große soziale Tragödie. Wir haben eine gesellscha­ftliche Elite, aber keine Intelligen­zschicht. Die David Camerons und Boris Johnsons dieser Welt sind Produkte dieser privilegie­rten Elite. Sie haben vom post-imperialen Kater Großbritan­niens gesprochen. Sie sind ein Kenner Russlands, dessen heutiger Präsident der Sowjetunio­n nachtrauer­t, und auch die Nostalgie für die Habsburger­monarchie scheint eher noch zuzunehmen. Was ist die Faszinatio­n von Großreiche­n? Ein besiegtes, erobertes und gedemütigt­es Imperium endet mit einem kulturelle­n Minderwert­igkeits- oder einem Schuldkomp­lex. Großreiche, die abtreten, ohne wirklich besiegt worden zu sein – und dazu würde ich das britische ebenso wie das sowjetisch­e zählen –, haben einen Kater in Form eines Überheblic­hkeitskomp­lexes. Das ist komplizier­t, und oft eine ziemlich giftige Mischung. Gibt es eine Heilung? Man muss lernen, ein zufriedene­s, bescheiden­es Land zu sein. Man muss seinen Platz in der Welt akzeptiere­n. England wäre viel entspannte­r, wenn es begriffe, dass es ein kleines Land ist, das sich nicht mehr wie ein Imperium zu gebärden braucht. Wir wären glückliche­r, wenn wir uns als Teil von etwas Größerem, als Teil eines gemeinsame­n Projekts, als Teil Europas verstehen könnten.

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Stanislav Jenis Orlando Figes: Nicht alle Brexit-Wähler sind Rassisten, aber alle Rassisten stimmten für den Brexit.
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