»Geschichte hängt oft von Dummheit ab«
Der britische Historiker und Russland-Experte Orlando Figes macht sich Sorgen: Im rechten politischen Lager ortet er Rassismus und Nationalismus, im linken Intoleranz und Kritikunfähigkeit. Dennoch hofft er weiter auf die Kraft der Vernunft und des Intern
In Ihren Büchern über die Geschichte Russlands haben Sie den Menschen eine Stimme verliehen. Was lernen wir, wenn wir Geschichte aus dieser persönlichen Perspektive erzählen? Orlando Figes: Es ist wichtig, Geschichte nicht nur als Abfolge von Ereignissen zu begreifen, sondern auch in ihrer individuellen Erfahrung. Was die Menschen aus Ereignissen machen, wie sie damit umgehen, welche Position sie wählen, wie sie im Nachhinein verstehen, was eine Gesellschaft getan hat, deren Teil sie waren. Ich bemühe mich immer, Geschichte in einer Form zu schreiben, die auch ihre emotionelle Bedeutung darstellt, nicht nur Kausalität, objektive historische Kräfte und anonyme Kollektive. Gibt es objektive historische Kräfte überhaupt – oder ist Geschichte am Ende menschengemacht? Es gibt historische Kräfte. Aber oft hängt Geschichte einfach von Fehlern, Zufällen oder – ziemlich oft – Dummheit ab. In einer Gesellschaft wie der des Stalinismus, aber ebenso im Nationalsozialismus, gibt es Opfer und Täter. Wie überlebt man mit diesem historischen Ballast? Oft waren es Zufall, Glück, ein Talent, eine Fügung. Viele sagen, was ihnen die Kraft zu überleben gab, war moralische Unterstützung, das Wissen, dass es vielleicht einen Menschen gab, der wartete. Von unendlich vielen, die kein Glück hatten, fehlt uns jede Spur. Und nach der Befreiung? Die Sowjetunion bestand nach dem Tod Stalins noch fast 40 Jahre weiter, die Opfer kehrten zurück und lebten Tür an Tür mit den Tätern. Einer der Gründe, warum so viele sich nach der Befreiung so schwer taten und oft aufgaben, war nicht nur, dass sie körperlich und seelisch traumatisiert waren, sondern, dass sie niemanden hatten, der sie verstand. Jahrzehntelang wurde darüber der Mantel des Schweigens gebreitet. Erst in den späten 1980er-Jahren organisierten Gruppen wie „Memorial“öffentliche Anhörungen. Da kam es zu Situationen, wo sich ein Denunzierter und ein Denunziant im selben Raum befanden. Interessanterweise führte das selten zu Konfrontationen, vielmehr gab es einen gewissen Konsens, dass unter Stalins Terror jeder in gewisser Hinsicht ein Opfer war. In einem Reich des Bösen gibt es eine Korrumpierung aller Werte und Beziehungen, und Handlungen werden, wenn schon nicht entschuldbar, so doch in einem gewissen Maß verständlich. Sie haben vor einem „moralischen Relativismus“in Bezug auf den Kommunismus gewarnt. Wir sehen auf beiden Seiten eine Rückkehr der Extreme. Aber es gibt die Wiederkehr einer Art von „schickem Kommunismus“, die auf einem eklatanten Mangel an Geschichtskenntnis beruht. Ich glaube, es geht darauf zurück, dass insbesondere auf der linken Seite bis heute die Russische Revolution als gescheiterter Versuch eines noblen Unterfangens gesehen wird. Ich lehne jede Art von moralischem Vergleich zwischen Faschismus und Kommunismus ab, das ist sicher nicht hilfreich. Stattdessen müssen wir Stalinismus in sich selbst verstehen. Das System, das 1917 in Russland etabliert wurde, endete 1991. Ein Mann, der lebenslang Kommunist blieb, war der Historiker Eric Hobsbawm. Er sagte: „Wieder ist die Zeit gekommen, Marx ernst
1959
in London geboren, seine Mutter ist die Schriftstellerin und Feministin Eva Figes.
Professor
für russische Geschichte am Birkbeck College, University of London. Figes ist einer der führenden Kenner des Landes. Werke wie „Die Tragödie eines Volkes“, „Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland“oder „Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne“wurden in mehr als 30 Sprachen veröffentlicht. In Russland sind seine Bücher verboten.
Ende September 2019
erscheint sein neuestes Buch, „The Europeans“. Es schildert das Verhältnis des russischen Schriftstellers Iwan Turgenjew mit dem Ehepaar Pauline und Louis Viardot und die Entstehung einer paneuropäischen Kultur. zu nehmen.“Der Marxist Jeremy Corbyn scheint an der Schwelle zur Downing Street zu stehen, sein Schatzkanzler John McDonnell nennt als liebste Freizeitbeschäftigung das Anzetteln von Revolutionen. Sind Sie beunruhigt? Ich weiß nicht, was für Marxisten Corbyn und McDonnell sind. Worüber wir aber definitiv besorgt sein müssen, ist die Rückkehr von politischem Extremismus. Überall sehen wir das Erstarken von Nationalismus und Rassismus auf der Rechten, und auf der Linken von Kräften, die intolerant, kritikunfähig und – im Fall der Labour Party – antisemitisch sind. Wir leben in besorgniserregenden Zeiten. Sind sie eine Rückkehr der 1930er-Jahre? Nein. Das wäre eine Übertreibung. Aber wir erleben einen Zusammenbruch des Internationalismus, der Toleranz und des Vertrauens in die Politik. Die Gefahr besteht, dass sich Massenbewegungen andere Formen der Artikulation suchen als jene der repräsentativen Demokratie. Sind diese Entwicklungen ein Ergebnis oder ein Fehler der Globalisierung? Es ist einfach, Globalisierung für alles verantwortlich zu machen, was schiefgegangen ist. Die Wahrheit aber ist: Wir können die Globalisierung nicht rückgängig machen. Sie geschieht seit Langem und wird weitergehen. Es wird weniger Jobs geben, die Technologie wird weitere Veränderungen bringen und die Frage ist, wie die Politik darauf reagiert. Was ich fürchte: Allzu leicht erliegt die Politik der Versuchung, Angst zu schüren, Hass zu entfachen und simple Lösungen zu versprechen. Sie haben sich einmal als „eine Art von Blair Man“bezeichnet. Der frühere britische Premierminister wollte eine Versöhnung von Kapitalismus und Sozialismus. Was ist aus diesem Dritten Weg geworden? Er ist offensichtlich versandet. Aber ich glaube immer noch an die Kraft des Internationalismus und die Fähigkeit von Vernunft und Aufklärung, Angst, Hass und Polarisierung zu überwinden. Wenn wir diesen Glauben verlieren, können wir gleich aufgeben. Wie kann dieser Glaube gestärkt werden? Nun, das ist schwierig, nicht wahr? Wir haben nicht nur politische und wirtschaftliche Herausforderungen. Wir haben auch Probleme wie Klimawandel und Massenmigration. Das sind drängende Fragen, und die Suche nach Vernunft und Verständigung kann manchmal einfach zu lang dauern. Der Brexit wird als Revolte der Benachteiligten und Verlierer gegen die herrschende liberale Elite verstanden. Doch die BrexitAkteure sind vorwiegend wütende weiße Männer um die 50, die sich als revolutionäre Organe zu verstehen scheinen. Was treibt diese Vertreter der besseren Gesellschaft? Es gibt ein Bündel von Gründen, aber ganz oben stehen Alter, Bildung und Geschichte: Menschen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, wählten fast geschlossen den EU-Verbleib. Jene, die mit den Kriegsfilmen der 1960erund 1970-er Jahren aufwuchsen, stimmen mehrheitlich für den Austritt. Diese ganze patriotische Nostalgie, verwoben mit „our finest hour“. . . Großbritannien hat eine falsche Sicht seines Platzes in der Welt, beruhend auf dem Mythos, dass wir Europa befreit hätten. Europa ist immer „der Andere“oder „der Fremde“gewesen. Die Briten haben sich nie wirklich europäisch gesehen, sondern arrogant für überlegen gehalten. Die historischen Wurzeln des Brexit sind eine Art imperialer Kater aus einem Gefühl der Überlegenheit und des Nichtdazugehörens gegenüber Europa. . . . woher Ihre Faszination für Russland kommt? Ich wurde sozusagen darauf gestoßen. 1983 war ich erstmals in Russland und ich war gleich gefesselt. Heute bin ich von der politischen Entwicklung zutiefst enttäuscht, besonders, wenn man bedenkt, was Anfang der 1990er-Jahre möglich schien. . . . wie es sich anfühlt, die deutsche Staatsbürgerschaft zu besitzen? Ihre Mutter war Jüdin und ist 1939 aus Berlin geflüchtet. Gut. Ich sehe das vor allem als einen zweckmäßigen Schritt. Ich wollte kein Brexit-Brite sein, und mit dem deutschen Pass bleibe ich Europäer. Die deutsche Staatsbürgerschaft hat für mich nichts mit Wiedergutmachung oder Vergangenheitsbewältigung zu tun . . . . welches Buch Sie für das 21. Jahrhundert empfehlen würden? Das wäre wohl Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern“. Das prägt dann wohl auch die Haltung gegenüber Fremden? Ich würde es so formulieren: Nicht alle Brexit-Wähler waren Rassisten. Aber alle Rassisten stimmten für den Brexit. Sie haben Bildung herausgestrichen. Großbritannien ist ein Land, das weltweit führende Forscher hervorbringt und zugleich in der Massenerziehung zu versagen scheint. Das ist unsere große soziale Tragödie. Wir haben eine gesellschaftliche Elite, aber keine Intelligenzschicht. Die David Camerons und Boris Johnsons dieser Welt sind Produkte dieser privilegierten Elite. Sie haben vom post-imperialen Kater Großbritanniens gesprochen. Sie sind ein Kenner Russlands, dessen heutiger Präsident der Sowjetunion nachtrauert, und auch die Nostalgie für die Habsburgermonarchie scheint eher noch zuzunehmen. Was ist die Faszination von Großreichen? Ein besiegtes, erobertes und gedemütigtes Imperium endet mit einem kulturellen Minderwertigkeits- oder einem Schuldkomplex. Großreiche, die abtreten, ohne wirklich besiegt worden zu sein – und dazu würde ich das britische ebenso wie das sowjetische zählen –, haben einen Kater in Form eines Überheblichkeitskomplexes. Das ist kompliziert, und oft eine ziemlich giftige Mischung. Gibt es eine Heilung? Man muss lernen, ein zufriedenes, bescheidenes Land zu sein. Man muss seinen Platz in der Welt akzeptieren. England wäre viel entspannter, wenn es begriffe, dass es ein kleines Land ist, das sich nicht mehr wie ein Imperium zu gebärden braucht. Wir wären glücklicher, wenn wir uns als Teil von etwas Größerem, als Teil eines gemeinsamen Projekts, als Teil Europas verstehen könnten.