Die Geschichte einer Entfremdung
Manches war vorhersehbar, anderes nicht: Seit einigen Wochen erleben ÖVP und FPÖ ihre erste Koalitionskrise. Im EU-Wahlkampf spitzt sich die Lage nun zu. Kommen Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache da wieder raus?
Rund um den ersten Geburtstag der türkis-blauen Regierung im vergangenen Dezember war Vizekanzler HeinzChristian Strache noch rundum zufrieden. „Sichtbar jünger“seien er und Bundeskanzler Sebastian Kurz in diesem Jahr geworden, meinte er. „Es macht uns Spaß.“
Diesen Eindruck hat man mittlerweile nicht mehr. Von einer Koalitionskrise rot-schwarzen Ausmaßes kann zwar noch keine Rede sein. Aber die Flitterwochen von ÖVP und FPÖ sind nun definitiv vorbei. Nach eineinhalb Jahren Zweisamkeit hat sich in der Koalition der triste Alltag eingeschlichen.
Er lasse sich von niemandem vorschreiben, wie er zu denken oder zu handeln habe, teilte Heinz-Christian Strache dem Kanzler unlängst in einem „Österreich“-Interview mit. „Wir beide sind schon lang aus der Schule raus und brauchen daher beide keinen Oberlehrer, der uns etwas ausrichtet.“
Unmittelbarer Anlass für den Konflikt war Straches These vom „Bevölkerungsaustausch“in Europa, die Kurz sowohl sachlich (die Massenmigration finde nach Europa, aber nicht umgekehrt statt) als auch atmosphärisch abgelehnt hatte, weil der Begriff in rechtsextremen Kreisen kursiert.
Doch die Botschaft hatte eine längere Geschichte. Wiederholt hatte Sebastian Kurz den Koalitionspartner in den Wochen davor öffentlich gemaßregelt, obwohl das eigentlich den Harmoniebestrebungen der Regierung widersprach. Irgendwann wollte sich der Vizekanzler das nicht mehr gefallen lassen.
Nicht nur Wahlkampf. Nach außen hin versuchen ÖVP-Politiker und Freiheitliche nun, den Eindruck zu vermitteln, als hätte die wachsende Distanz zueinander ausschließlich mit der EUWahl am 26. Mai zu tun, dem ersten überregionalen Stimmungstest seit dem Amtsantritt von Türkis-Blau. Dementsprechend groß sei die Nervosität auf beiden Seiten, heißt es. Doch die Sache ist komplizierter.
Eigentlich hatte man einen gemeinsamen Plan gehabt: Ein wohl dosierter Streit zwischen den beiden Spitzenkandidaten, also zwischen dem überzeugten Europäer Othmar Karas (ÖVP) und dem EU-Skeptiker Harald Vilimsky (FPÖ), sollte die jeweiligen Kernwählerschichten und Funktionäre mobilisieren. Für die Grautöne dazwischen wurde Staatssekretärin Karoline Edtstadler von der ÖVP-Spitze ins Rennen geschickt. Doch dann geschah etwas, mit dem die Regierungsstrategen nicht gerechnet hatten.
Am 15. März kamen bei einem Attentat im neuseeländischen Christchurch 50 Menschen ums Leben, getötet von einem Rechtsextremen, der – wie sich später herausstellte – auch dem Chef der Identitären Bewegung in Österreich eine Geldspende hatte zukommen lassen. Jenen Identitären, die freundschaftliche Beziehungen zu nicht wenigen Freiheitlichen pflegen. Und damit wurde die Tragödie von Christchurch auch zu einem Problem der Regierung in Wien.
An diesem Punkt verloren ÖVP und FPÖ die Kontrolle über ihre Außenwirkung. Aus dem inszenierten wurde ein echter Streit. Sebastian Kurz, dessen internationale Reputation Schaden zu nehmen drohte, forderte den Koalitionspartner auf, alle Kontakte zu den Identitären abzubrechen. Anders als bisher jedoch nicht hinter verschlossenen Türen, sondern öffentlich. Die vom Vizekanzler so oft beschworene „Behandlung auf Augenhöhe“war das nicht, wie man in der FPÖ zornig feststellte.
Die Geschichte wiederholte sich, nachdem der freiheitliche Vizebürgermeister von Braunau, Christian Schilcher, ein Gedicht publiziert hatte, in dem er Vergleiche zwischen Flüchtlingen und Ratten anstellte. Die FPÖ-Spitze reagierte umgehend und legte Schilcher den Rücktritt nahe, ärgerte sich insgeheim aber über die nächste öffentliche Zurechtweisung von Kurz.
Der ÖVP wiederum war spätestens jetzt wieder bewusst geworden, dass es in den Reihen des Koalitionspartners auch zweifelhaftes Gedankengut gibt. Und dass sich häufende „Einzelfälle“in der FPÖ auch ihr Image beschmutzen. Ruppiger Umgangston. Der Umgangston sei ruppiger geworden, hört man aus Koalitionskreisen. Und im EUWahlkampf spitzt sich die Lage nun zu. Wer eine Partei wählen wolle, die entschlossen gegen Massenmigration sei, aber keine belasteten Begriffe – gemeint war „Bevölkerungsaustausch“– verwende, dem empfehle er die ÖVP, sagte der Kanzler vor Kurzem in einem Interview mit der „ZiB2“.
Wenig später stellte er sich hinter ORF-Anchorman Armin Wolf, dem FPÖ-Spitzenkandidat Harald Vilimsky live auf Sendung Konsequenzen angedroht hatte, weil er sich aufgrund der Fragestellungen (über rechtsextreme Auswüchse in der FPÖ) ungerecht behandelt fühlte. Drohungen gegen Journalisten lehne er ab, sagte Kurz.
Vilimsky schlug zurück, indem er vergangenen Sonntag die vom Kanzler geforderte Neuverhandlung des EUVertrags in Zweifel zog. Am Montag meldete sich dann Heinz-Christian Strache zu Wort: Es freue ihn besonders, „dass Sebastian Kurz auch diesen freiheitlichen Vorschlag aufgreift, wie er ja zuvor schon viele freiheitliche Vorschläge aufgegriffen hat“.
Zwei Wochen vor der Wahl fällt auf, dass sich die Parteichefs zunehmend in den Wahlkampf einschalten. Strache begleitet Vilimsky, wann immer er kann. Und Kurz schiebt noch eine Bundesländertour ein, um die jeweiligen Kandidaten zu unterstützen. Das Duell Karas gegen Vilimsky scheint dann doch nicht im gewünschten Ausmaß zu mobilisieren.
Zum Ärger der FPÖ denkt die ÖVP nun auch hier über eine Strategieänderung nach: In den ausständigen TV-Duellen könnte Karoline Edtstadler gegen Harald Vilimsky antreten, um Othmar Karas nicht länger dem Vorwurf auszusetzen, er habe – etwa im Asylbereich – regelmäßig die Regierungslinie konterkariert und mit dem türkis-blauen Projekt im Grunde gar nichts zu tun (wovon sich die Freiheitlichen ÖVP-Stimmen versprechen). In der FPÖ geht einstweilen die Angst um, Sebastian Kurz könnte in der Sonntagsfrage auf die 40-Prozent-Marke zumarschieren und dann auf die Idee kommen, Wolfgang Schüssels Taktik aus dem Jahr 2002 zu wiederholen: die Koalition zu sprengen, um bei einer Neuwahl dann die FPÖ stimmenmäßig abzuräumen.
Doch davon will man in der ÖVP nichts wissen: Auch wenn die Stimmung schon besser gewesen sei, wisse man doch, was man an der FPÖ habe. Und nach der Wahl könne man sich ja wieder auf die Regierungsarbeit konzentrieren. Sofern, möchte man hinzufügen, in den letzten Wochen nicht zu viel Porzellan zerschlagen wurde.
Nach dem Attentat von Christchurch verloren ÖVP und FPÖ die Kontrolle. Man wisse trotz allem, was man an den Freiheitlichen habe, heißt es aus der ÖVP.