Wesen gewordenes Herbstblatt
Die kurze Reise einer großen, wenig bekannten literatin und unglücklich liebenden. Die »Selbstmörderin auf Urlaub« ist zu traurig, zu zerrissen, um das Abenteuer leben zu meistern. Hertha Kräftner wählt im Alter von 23 jahren den Freitod.
Eines Vormittags läutet beim Dichter Hermann Hakel das Telefon. Mit bedrückter Stimme bittet Hertha Kräftner den Freund um ein Gespräch bei ihm zu Hause. „Ist es dringend?“, fragt er. „Nein, nein“, weicht sie aus. Hakel meint: „Dann ruf mich bitte während der nächsten Tage wieder an, und wir vereinbaren einen Termin . . .“
Wenige Tage später ist Hertha Kräftner tot. Mit einer Überdosis Veronal-Schlaftabletten wählt die hochsensible 23-Jährige in der Nacht eines tristen Novembertags des Jahres 1951 den Freitod. Der schwer gehbehinderte und seit Geburt an auf einem Auge blinde Hakel, Förderer junger Literatinnen wie Ingeborg Bachmann und Marlen Haushofer, erinnert sich an seine feige Ausre
Michael Horowitz de: „Mein aufgeregtes Herzklopfen während ihres Anrufs, meinen Versuch, mich zu beherrschen, um Zeit zu gewinnen, konnte die Hilfesuchende nicht ahnen . . . Die meist berechtigte Eifersucht meiner Frau war gerade in diesem Fall, de facto wenigstens, unbegründet. Ich selbst hatte mir diese angebotene Liebe verboten und die allzu willige Nymphomanin gebeten, mich als väterlichen Freund zu akzeptieren.“
Aus der Lyrik und Prosa der tieftraurigen Literatin, deren Vorbilder Kafka, Trakl und Rilke sind, sprechen Schwermut und Trübsinn, die auch ihr kurzes Leben bestimmen. Das Motiv des Todes zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Werk. Dennoch bleibt sie eine Poetin ohne Pathos.
Mancher Mentor der Wiener Literaturszene während der ersten Nachkriegsjahre schwärmt von Hertha Kräftner, einem „Wesen gewordenen Herbstblatt“, von ihren „melancholisch dunklen und silbern vernebelten Augen, ihrem brünetten, weichen Haar, dem deutlich geformten Busen, den etwas langsamen Bewegungen ihrer lässigen, blassen Hände“.
Der Psychiater Viktor Frankl – sie hat ihn wegen ihrer Neugier auf Psychologie kennengelernt – erlebt sie als scheu, „zaghaft bis verzagt“und immer wieder von depressiven Schüben gepeinigt. Von Frankl wird sie in den Kreis um den Kulturkritiker Hans Weigel, der im Cafe´ Raimund Hof hält, eingeführt. Auch Weigel, Förderer und Mentor, aber auch Geliebter vieler junger Literatinnen, ist von Hertha Kräftners Begabung beeindruckt.
Seine Bemühungen, ihr Werk zu unterstützen, sind nur bedingt erfolgreich. Ihre „literarische Hoffnungslosigkeit“kann trotz viel Lobs der Kritik durch die bescheidenen Erfolge nicht aufgewogen werden. In seinem Buch „In Memoriam“nennt Hans Weigel die tragische Lyrikerin eine „Selbstmörderin auf Urlaub“, deren Gemütssituation immer mehr in Resignation und Todessehnsucht mündete. Weigel lobt Kräftner, wann immer er kann: Wie in einer Zeitungskritik wenige Wochen vor ihrem Tod – Helene Thimig liest im Kosmos-Theater aus Kräftners Werk.
Einige Tage vor dem Freitod – zuvor hat sie schon mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen – schreibt Hertha an ihre Mutter: „Es ist einfach so, dass ich viel zu traurig und zu müde Geburt. 26.April in Wien. Lyrik. Erste Veröffentlichung: „Einem Straßengeiger“. Pariser Tagebuch. Erste Anerkennung der Prosatexte. Tod. 13. november in Wien. Erstes Buch. „Warum hier? Warum heute?“ bin, um noch leben zu wollen.“In einem ihrer letzten Gedichte findet sie laut Hans Weigel „das Gleichnis von der großen Reise – sterben, im Schlafwagen fahren, die Fahrkarte ist sehr teuer gewesen, sie hat das Leben gekostet, doch nur um diesen Preis gewinnt man die Ewigkeit“.
Sie setzt ihrem Leben auch aus Liebeskummer ein Ende. Hertha wohnt in Wien nach der Matura bei einer streng resoluten Tante, die keine Herrenbesuche duldet und sie auch sonst be- und überwacht. Kurz vor ihrem Ende überlegt sie, einem ihrer unglücklichen Lieben, Harry Redl, der nach Kanada ausgewandert ist, zu folgen. Es sei ja „nur eine Seereise“meint dieser im Sommer 1951, doch entscheidungs- und kraftlos bleibt Hertha in Wien zurück. Sie telegrafiert Redl nach Vancouver: „Vielleicht hätte ich gerne mit dir gelebt, aber du warst so weit, ich konnte nicht hinüber . . . “
Harry Redl, der Sohn eines Wiener Weinhausbesitzers am Praterstern, wird später als „Life-“, „Time-“und „Newsweek“-Fotograf weltbekannt und begleitet viele Jahre hindurch Literaten wie Allen Ginsberg und Henry Miller in Amerika mit seiner Kamera. Seine große, unerfüllte Liebe ist in Wien zurückgeblieben.
Im Buch „Kühle Sterne“meint sie: „Es gefällt mir, meine Gefühle zu sezieren. Ich habe etwas erkannt: dass ich zwei Leben lebe. Die Wirklichkeit besitzt mich nie ganz. Die Träume sind von einer gefährlichen Süße. Aber ich fühle nichts vom Rausch und meine Lippen schmecken jetzt schon bitter. Ich werde zu Ende trinken.“
In Wien geboren, zieht Hertha als Kind mit ihrer Familie ins Burgenland. In Mattersburg unternimmt sie schon während der Schulzeit poetische Versuche. Ihr erstes Gedicht trägt den Titel „Mädchen“: „Am Fenster stehn und warten und so voll Sehnsucht sein, wie draußen im Garten die roten Rosen sind, wenn sie in Nächten fühlen: Wir werden blühen. Und man ist nicht mehr Kind.“
Als 1945 Soldaten der Roten Armee in das Haus der Familie eindringen, wird das Leben des übersensiblen Mädchens erschüttert: Während einer Schlägerei mit einem Besatzungssoldaten wird der Vater so schwer verwundet, dass er bald danach seinen Verletzungen erliegt.
Hertha zieht nach Wien, um an der Universität ein Lehramtsstudium zu beginnen. Sie besucht auch Vorlesungen über Psychologie, in denen sie mit Jean-Paul Sartres Existenzialismus konfrontiert wird. Davon beeindruckt, flüchtet Kräftner im Sommer 1950 nach Paris. Hier geht es ihr besser, sie schreibt ein befreiendes Tagebuch.
Nach einer beklemmenden burgenländischen Kindheit und dem strengen Diktat der Tante in Wien und schwierigen, oft quälenden Liebesbeziehungen wie zum Bibliothekar Otto Hirss, den sie in Anlehnung an Schnitzlers Einakter-Zyklus Anatol nennt, lebt sie in den Kellern des Pariser Quartier Latin auf: „Durchtränkt und hingerissen von lyrischen, alkoholischen und sexuellen Exaltationen steigert sich ihre Schizophrenie.“
Zu Lebzeiten Hertha Kräftners, die heute als eine der bedeutendsten Lyrikerinnen Österreichs gilt, werden nur einige Gedichte veröffentlicht, der breiten Öffentlichkeit ist die Dichterin nicht bekannt. Erst zwölf Jahre nach ihrem Tod gibt Andreas Okopenko das Buch „Warum hier? Warum heute?“heraus.
Die erst 23-jährige Schriftstellerin wird im November 1951 vom altkatholischen Pfarrer Czeipek am Atzgersdorfer Friedhof begraben. Hätte sie das Abenteuer Leben länger gemeistert, wäre vermutlich ein Gesamtwerk in der Dichte einer Aichinger, Bachmann oder Mayröcker entstanden.
Aus lyrik und Prosa der tieftraurigen literatin sprechen Schwermut und Trübsinn. Hertha wohnt bei einer streng resoluten Tante, die keine
duldet.
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